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Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Titel: Gletscherkalt - Alpen-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan König
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er,
Schwarzenbacher, sich als Einziger in der gegenwärtigen Situation richtig
wohlfühlte.
    Wie um ihre Vermutung zu bestätigen, sagte Schwarzenbacher: »Es ist
mehr als das. Es geht nicht nur darum, sie an ihren Schwächen festmachen zu
können. Wir müssen uns in so einen Typen reinversetzen, so etwa, wie Schauspieler
es tun. Gute Schauspieler, meine ich. Die spielen nämlich gar nicht mehr, die
sind wie in Trance, haben für die Dauer eines Theaterstücks oder eines
Drehtages die andere Identität angenommen, sind Opfer oder Mörder, Hure oder
verlassene Ehefrau, sind Wallander oder Queen Elizabeth. Und genau das müssen
wir versuchen: Genau so zu sein wie der Mörder von Hellwage und Spiss – wenn
wir mal davon ausgehen, dass beide vom selben Mörder aus dem Leben
verabschiedet worden sind –«
    »Wir gehen davon aus«, warf Hosp ein. »Die Ergebnisse der
Rechtsmedizin liegen aber im Fall Hellwage noch nicht vor.«
    Schwarzenbacher ging nicht darauf ein. »Versetzen wir uns in den
Mörder. Versuchen wir, so zu denken und zu fühlen wie er. Seien wir brutal,
sadistisch, skrupellos, gnadenlos. Und achten wir darauf, was dann in unserem
Inneren hochsteigt: Er weiß vermutlich jetzt, wer dieser Fotograf war, der
Carla im Autowrack abgelichtet hat. Und der ihr nicht geholfen hat. Er kennt
den Namen, vielleicht die Adresse. Also – was tut er als Nächstes?«
    Er sah in die Runde.
    »Ihr braucht alle nicht so zu tun, als wärt ihr nicht zu Brutalität,
Sadismus, Skrupellosigkeit und Gnadenlosigkeit fähig. Wir tragen das alle in
uns. Haben es bisher vielleicht ganz gut beherrschen können. Aber ich bin
sicher, es gibt Situationen für jeden von uns …«
    Er schaute Marielle und nur Marielle an. »Es gibt Situationen für
jeden von uns, wo eine Brutalität frei wird, die man nie für möglich gehalten
hätte.«
    Marielle war sich immer ganz sicher gewesen, nicht allzu leicht zu
erröten. Jetzt aber glaubte sie, die Röte in ihrem Gesicht spüren zu können.
Sie senkte das Kinn auf die Brust und wünschte sich, einfach nicht hier zu
sein. Ihr fiel die Zeile aus einem André-Heller-Lied ein: »I mechat
unsichtbar sein.«
    Und ihr fielen Momente aus der Schattenwand ein, wo sie um ihr Leben
gekämpft hatte, und aus dem letzten Jahr, als sie sich mit einem geistig
minderbemittelten Gewalttäter ein Duell auf Leben und Tod geliefert hatte.
    Sie wusste nur zu gut, was Schwarzenbacher meinte, als er sie so
angesehen hatte. Doch sie wollte von alldem nichts mehr wissen.
    Sie wischte die grausigen Erinnerungen weg wie Brösel vom Tisch.
    Marielle wollte nur, dass ihr so etwas nicht noch einmal widerfuhr.

11
    Die Sterne funkelten, es würde eine kalte Nacht werden. Tinhofer
lag in seinem Schlafsack, einem teuren, federleichten, dabei doch unheimlich
warm haltenden Modell, das sich jederzeit auch bei einer
Achttausender-Expedition hätte verwenden lassen, und schaute in den Himmel.
    Dankbar war er für dieses Geschenk, das sein Leben wieder einmal für
ihn bereithielt.
    Er lag auf seiner sich selbst mit Luft füllenden Isomatte, die er
auf einer beinahe ebenen Urgesteinsplatte ausgelegt hatte. Die Hände hatte er
unterm Hinterkopf verschränkt, es war nach zehn Uhr abends, und während er die
Wanderung der Sternbilder am schwarzen Firmament beobachtete, ließ er zugleich
seinen Tag Revue passieren. Die Fahrt aus der Stadt heraus, auf der Autobahn
nach Osten, bis er ins Zillertal abzweigen konnte, die Fahrt durch das Tal bis
Mayrhofen, das touristische Zentrum der ganzen Region, und seine Auffahrt bis
ans Ende der für den allgemeinen Verkehr zugelassenen Straße.
    Er war die lange Pendelbusstrecke taleinwärts gewandert, war
glücklich gewesen, als die Straße zu Ende war und ein Wanderweg ansetzte, der
wie ein Symbol dafür stand, die Zivilisation wenigstens kurzzeitig hinter sich
lassen zu können.
    Der Weg hinauf zur Kasseler Hütte, den er gut kannte, immer wieder
gerne ging, begeisterte ihn auch dieses Mal wieder, wenngleich er die Mühen des
ziemlich steilen Anstiegs beschwerlicher zu empfinden glaubte als noch im
vorletzten Jahr.
    In seinem nächtlichen Biwak dachte er darüber nach, was es hieß,
jetzt alt zu werden. Vor ein paar Jahren hatte es ihm noch nicht viel
ausgemacht, den großen Rucksack mit Schlafsack, Isomatte, Wäsche, Anorak,
Proviant und der Kameraausrüstung in die Berge zu schleppen. Es wurde immer
mühsamer. Die Kondition schwand so, wie das Wasser in einer Vogeltränke
verdunstete. Was freilich

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