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Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Titel: Gletscherkalt - Alpen-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan König
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nicht das Hauptproblem war. Das war viel mehr sein
gesundheitlicher Zustand.
    Mein Verfall, dachte er.
    Die Rückenschmerzen, die er sich bei jedem längeren Abstieg
eingehandelt hatte. Damit war es losgegangen. Abnützungserscheinungen,
verkrümmtes Rückgrat, was die Orthopäden halt so sagen. Mittlerweile wusste er,
dass der Rücken nur eine Folge seiner eigentlichen Erkrankung war, genauso wie
die allgemeine Erschlaffung, wie die gelegentliche Antriebslosigkeit und die
häufiger werdenden Kopfschmerzen, die er früher überhaupt nicht gekannt hatte.
In Innsbruck gab es reichlich Leute, die, insbesondere bei Föhn, über
Kopfschmerzen klagten – da hatte er nur immer in sich hineinlächeln können,
froh, davon nicht die geringste Vorstellung zu haben, sah er einmal ab von den
Folgen zu intensiven Alkoholkonsums, was jedoch zeitlich so weit zurücklag,
dass er sich wirklich kaum noch daran erinnern konnte.
    Was habe ich wieder geschwitzt, dachte er. An der Hütte hätte ich
mein T-Shirt auswringen können. Der Arzt sagt, es sei nicht ungewöhnlich, dass
ich in meinem Zustand so arg schwitze. Aber ich finde es ungewöhnlich. Und
nervig.
    Er dachte an die Stunde, die er auf der Terrasse der Kasseler Hütte
verbracht hatte, das T-Shirt hatte er zum Trocknen übers Geländer gelegt, und
er hatte sich einen Spezi, noch einen Spezi und noch ein großes Mineralwasser
bestellt. »Viel trinken«, hatte ihm der Arzt gesagt. »Ganz wichtig ist, dass
Sie viel trinken!« Mit einer durch nichts zu dämpfenden Begeisterung, die ihn
selbst überraschte, hatte er die umliegenden Berge bestaunt: den Großen
Löffler, die Keilbachspitze, die Greizer Spitze und den Gigalitz, formschöne
Dreitausender allesamt, und die unter ihren Flanken eingebetteten Gletscher,
das Stillupp-, das Löffler-und das Lapenkees. Welch eine Pracht! Und das,
obwohl das ewige Eis im Schwinden begriffen war, obwohl die Gletscher abgeschmolzen,
viel kleiner geworden waren: Welch eine Pracht!
    Und während immer mehr Bergsteiger eingetroffen waren, ihre
Rucksäcke abgestellt, die Eispickel und die Bergstiefel im dafür
bereitgehaltenen Raum neben dem Eingang verstaut und sich bei den Wirtsleuten
wegen ihres Nachtquartiers angemeldet hatten, war Tinhofer wieder aufgebrochen.
Nicht für viel Geld hätte er diese Nacht in einer Hütte verbringen wollen, gar
mit vielen fremden Menschen im Matratzenlager. Er hatte diese Erfahrungen
gemacht, hatte sie, einer schönen Bergtour wegen, immer wieder billigend in
Kauf genommen. Doch mit seinem Älterwerden hatte auch eine Unduldsamkeit
eingesetzt, ein wachsendes Unvermögen, die negativen Aspekte hinnehmen zu
können. Er hatte einfach keine Lust mehr, einzuatmen, was andere ausgeatmet
hatten. Er war es leid, sich im Schnarchgeräusch anderer schlaflos hin-und
herzuwälzen. Er hatte genug vom Geruch der Bergsteigerstrümpfe, vom
Schweißgeruch, der aus Shirts und Blusen aufstieg, von den Ausdünstungen der
Schlafenden.
    Wie genoss er es, hier oben unter dem freien Himmel zu liegen,
allein mit sich selbst.
    Auf dem schmalen Steig war er von der Hütte weg in vielen Kehren
Richtung Östliches Stilluppkees gestiegen. Es war schon später Nachmittag, und
er musste sich ein wenig beeilen, wollte er noch so weit kommen, wie es in
seinem Plan lag. Er wollte bis in die Gletscherregion vordringen, um noch in
der Dämmerung und dann früh am nächsten Morgen die Bilder zu machen, die vor
seinem inneren Auge längst entstanden waren. Bilder völliger Einsamkeit,
absolut stiller Natur, menschenleer. Ansel Adams war gewissermaßen sein
Vorbild.
    Als er den Gletscher erreichte, der an seiner Zunge von Geröll und
Kies schmutzig bedeckt war, hielt er sich rechts: nicht zur alpinistisch
verlockenden Wollbachspitze, sondern zur Grünen Wand.
    Es war nicht ungefährlich gewesen, den Gletscher allein und
ungesichert zu queren, aber er hatte sich einmal mehr auf seine Erfahrung und
seinen Instinkt verlassen können – in den letzten Jahren hatte er sich mit den
Gletschern ganz innig vertraut machen können, er empfand sie nicht mehr als
gefahrvoll, nicht als beängstigend, er liebte sie und fühlte sich fast immer
gut aufgehoben, wenn er zwischen ihren abgrundtiefen Spalten und Eisbrüchen
unterwegs war.
    Er war hinaufgestiegen, bis sein Höhenmesser zweitausendsiebenhundert
Meter angezeigt hatte, und war dort vom Gletscherfirn nach rechts in das
gewaltige Blockwerk hinübergequert, das den Gipfelaufbau der Grünen Wand
bildete.
    Auf seinem

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