Glockengeläut
den Tag, daß er die Dame, die parallel zu Maybury auf der anderen Seite der Tafel alleine an ihrem Tisch saß, noch nicht erreicht hatte. Maybury unterzog sie nunmehr einer genaueren Betrachtung. Das schwarze Haar reichte ihr bis auf die Schultern, und sie trug ein seidenes Abendkleid, ein wahres Haute-Couture-Modell - zumindest hielt Maybury, der in diesen Dingen wenig bewandert war, es dafür -, das in vielen Farben schillerte; ihr Gesichtsausdruck jedoch spiegelte eine solche Trauer, ein solches Leid, eine solche Erschöpfung wider, daß Maybury zutiefst entsetzt war, zumal da sie einmal sehr schön gewesen sein mußte, ja es eigentlich immer noch war. Gewiß konnte sich eine so traurige, ja tragische Person nicht durch ein Riesenstück Truthahn mit fünf Gemüsebeilagen hindurchkämpfen. Vorsicht und gebotene Höflichkeit außer acht lassend, erhob Maybury sich halb von seinem Stuhl, um besser sehen zu können.
»Essen Sie auf, Sir. Du liebe Güte, Sie haben ja noch gar nicht angefangen!« Sein Plagegeist war unbemerkt wieder hinter ihn getreten. Mehr jedoch irritierte es ihn, daß die tragische Dame tatsächlich zu essen schien.
»Ich bin satt. Tut mir leid, es war ausgezeichnet, aber ich bin vollkommen satt.«
»Das sagten Sie schon einmal, Sir. Und schauen Sie, danach haben Sie doch noch etwas gegessen.« Er wußte, daß er eben diese Worte gebraucht hatte. Krisen und abgedroschene Phrasen pflegen zusammenzukommen.
»Ich habe wirklich genug gegessen.«
»Das hören wir hier aber überhaupt nicht gern!«
»Ich möchte nichts mehr essen. Bitte räumen Sie ab und bringen mir einen schwarzen Kaffee, sobald die anderen soweit sind. Ich kann warten.« Obwohl Maybury sich in diesem Fall durchaus schwertat zu warten, durfte er doch auf keinen Fall die Selbstbeherrschung verlieren.
Die Frau tat daraufhin etwas, was Maybury nie erwartet hätte. Sie nahm seinen vollen Teller (Maybury hatte sich zumindest von allem genommen) und schmetterte ihn mit voller Wucht auf den Boden. Sogar durch diesen Kraftakt brach der Teller nicht entzwei; Fleischsaft, Gemüse und die üppige Füllung verteilten sich über den dicken, gemusterten Teppichboden. Völlige - verglichen mit der vorherigen, eher relativen - Stille erfüllte den Raum; obwohl, wie Maybury selbst in dieser Situation es noch registrierte, auch in der Stille hier und da ein leises Klappern der Bestecke zu vernehmen war. Und auch er hielt weiterhin Messer und Gabel in den Händen.
Falkner umrundete das von Maybury entfernte Schmalende der zentralen Tafel.
»Mulligan«, fragte er, »wie oft denn noch ?« Sein Ton war ruhig wie immer. Maybury war bislang nicht aufgefallen, daß die unbequeme Frau Irin war.
»Mr. Maybury«, fuhr Falkner fort, »ich verstehe Ihre Schwierigkeiten vollkommen. Selbstverständlich sind Sie keinesfalls verpflichtet, an etwas teilzunehmen, was Sie nicht wünschen. Ich bedaure zutiefst, was geschehen ist. Es muß auf Sie wirken, als habe dieses Haus einen beklagenswert schlechten Service. Vielleicht möchten Sie lieber in unseren Salon gehen? Wäre ein Kaffee recht?«
»Ja«, sagte Maybury in seinem Bemühen um das Wesentliche. »Ja, bitte. Ich habe bereits einen schwarzen Kaffee bestellt. Könnte ich wohl ein Kännchen bekommen?«
Er mußte behutsam über die Bescherung auf dem Teppich steigen, wobei er seinen Blick auf den Boden richtete. Gleichzeitig bemerkte er etwas höchst Eigenartiges. Etwa dreißig Zentimeter oberhalb des Bodens verlief eine Schiene entlang der Mitte der zentralen Tafel, an welche einer der männlichen Gäste mittels einer Fessel um seinen linken Fußknöchel gekettet war.
Maybury, nun ernsthaft erschüttert, hätte eigentlich erwartet, bis zum Servieren des Kaffees allein im Salon zu sein. Doch er hatte sich kaum auf einem der massiven Sofas niedergelassen (fünf Leute nebeneinander hätten leicht darauf Platz gefunden, zwei davon mit Übergewicht), als der gutaussehende Bursche plötzlich erschien und mit jener Beschäftigung fortfuhr, der er sich schon früher am Abend hingegeben hatte: einfach herumzustehen. Es gab keine Illustrierten, noch nicht einmal die üblichen Prospekte à la ›Unser schönes Großbritannien‹, und Maybury empfand die Anwesenheit des anderen als ausgesprochen lästig. Allerdings wagte er es auch nicht, einfach »Danke, ich brauche nichts mehr« zu sagen. Ihm fiel nichts ein, was er hätte äußern oder tun können; auch der ›junge Athlet‹ sprach nicht, schien auch nichts
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