Glockengeläut
schien geradezu ängstlich auf ihrer Zugehörigkeit zu bestehen, und Maybury merkte, daß er offenbar ins Fettnäpfchen getreten war.
Er versuchte, das Beste draus zu machen. »Mir scheint, daß Sie doch ein wenig anders sind als die anderen.«
»Inwiefern anders?« fragte sie, diesmal wirklich ängstlich, und starrte ihn gebannt an.
»Zunächst sind Sie schöner. Sie sind sehr schön«, sagte er, obwohl der Bursche, dem bestimmt kein Wort entging, immer noch da war.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen.« Unvermutet überbrückte sie die kurze Entfernung zwischen ihnen, indem sie seine Hand ergriff. »Wie, sagten Sie doch, war Ihr Name?«
»Lucas Maybury.«
»Nennt man Sie Luke?«
»Nein, ich mag das nicht. Ich bin kein Luke-Typ.«
»Aber Ihre Frau kann Sie doch unmöglich Lucas nennen?«
»Leider doch.« Er hätte gut auf diese Frage verzichten können, die ihm allzu offensichtliche Neugier verriet.
»Lucas? Oh nein, das klingt so kalt.« Sie hielt immer noch seine Hand.
»Das tut mir leid. Soll ich Ihnen etwas Kaffee bestellen?«
»Nein, nein, Kaffee ist nicht gut; er ist zu anregend, zu aufregend, beunruhigend, macht einen schlaflos.« Wieder sah sie ihn mit traurigen Augen an.
»Dies ist schon ein seltsamer Ort«, sagte Maybury und drückte ihre Hand. Es fiel langsam auf, daß noch keiner der übrigen Gäste erschienen war.
»Ich könnte ohne das Hospiz nicht leben«, gab sie zur Antwort.
»Kommen Sie oft hierher?« Es war eine lächerlich konventionelle Frage.
»Natürlich. Sonst wäre das Leben nicht mehr möglich. All die Leute auf der Welt ohne ausreichende Nahrung, ohne Liebe, sogar ohne Kleidung zum Schutz vor der Kälte.«
Während des Abendessens, dachte Maybury, war es im Salon nun auch so heiß wie im Speisesaal geworden.
Ihr tragischer Gesichtsausdruck schien um sein Verständnis zu werben. Nichtsdestoweniger hatte sie dem Gespräch eine Richtung gegeben, die ihm nicht behagte. Er zog lösbare Probleme vor. Vor den anderen war er ausreichend gewarnt worden.
»Aber ja«, sagte er, »ich weiß schon, was Sie meinen.«
»Es gibt Millionen und Abermillionen Menschen in dieser Welt, die überhaupt keine Kleider haben«, rief sie aus und entzog ihm ihre Hand. »Nicht ganz«, sagte Maybury lächelnd, »nicht ganz so viele. Oder zumindest noch nicht.«
Er kannte die Probleme sehr gut - und dachte so wenig wie möglich an sie. Man mußte überleben, man mußte für seine Familie sorgen.
»Jedenfalls«, fügte er hinzu, bemüht, einen leichteren Ton anzuschlagen, »scheint das auf Sie nicht zuzutreffen. Ich habe selten ein kostbareres Kleid gesehen.«
»Ja«, entgegnete sie mit schlichter Würde. »Es kommt aus Rom. Möchten Sie es berühren?«
Selbstverständlich wollte Maybury es berühren, aber ebenso selbstverständlich hinderte ihn die Anwesenheit ihres Aufsehers daran.
»Berühren Sie es«, befahl sie mit leiser Stimme. »Mein Gott, worauf warten Sie? Berühren Sie es!« Sie ergriff erneut seine linke Hand und preßte sie gegen ihre warme, seidenweiche Brust. Der Bursche schien davon genau so viel oder wenig Notiz zu nehmen wie von dem übrigen Gespräch.
»Lassen Sie es laufen. Wozu um Himmels willen ist das Leben überhaupt gut?« Ein so leidenschaftlicher Ernst lag über allem, was sie tat und sagte, daß es einen erfahreneren Mann, als Maybury es war, seine Selbstbeherrschung hätte kosten können - doch Maybury schien völlig unberührt. Noch nie in seinem Leben hatte er vollends die Kontrolle verloren, und mittlerweile war er ziemlich sicher, daß ihm das auch nicht mehr passieren würde.
Sie drehte sich herum, bis sie ihre Beine über die ganze Länge des Sofas ausstrecken konnte und ihr Kopf in seinem Schoß beziehungsweise, um genau zu sein, auf seinen Oberschenkeln ruhte. Sie hatte sich so geschickt bewegt, daß noch nicht einmal ihr Rock verrutscht war. Der Duft ihres Parfums stieg zu ihm hinauf.
»Kümmern Sie sich nicht um Vincent«, gurrte sie zu ihm hoch. »Ich werde Ihnen etwas über Vincent erzählen. Auch wenn man meinen könnte, er sehe aus wie ein griechischer Gott, so fehlt ihm doch schlicht und einfach das, worauf es ankommt; er ist impotent.«
Maybury war natürlich peinlich berührt. Gleichwohl fuhr es ihm durch den Kopf, daß es Situationen gab, in denen man nur eine ganz bestimmte Sache sagen konnte.
Es blieb jedoch unerheblich, was er dachte, denn nach ihren Worten hatte Vincent unverzüglich den Raum durch die Personaltür (so glaubte
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