Glockenklang von Campanile
als wäre es gestern gewesen. Aber das wissen Sie natürlich alles. Sie scheint auch zu glauben, eine Schwiegertochter namens Maria zu haben, die sie besuchen kommen wird. Aber ich glaube, es sind schon alle hier gewesen, und keine von ihnen hieß Maria.”
Geschäftig eilte sie wieder hinaus. Sonia saß da, wie vor den Kopf geschlagen. Nun endlich verstand sie vieles.
Vor fünfzig Jahren war Giovannas Baby schon bald nach der Geburt gestorben. Hinterher hatte sie weitere Kinder geboren, sodass niemand auf die Idee gekommen war, sie könnte noch immer um ihr Erstgeborenes trauern. Aber wie hätte diese stolze, unbeugsame Frau auch zugeben können, dass sie Menschen liebte und brauchte?
Mich, zum Beispiel?
Ihre Schwiegermutter hatte auf ihre ungelenke Art versucht, ihr Herz zu gewinnen. Sonia fielen ihre Worte am Krankenbett wieder ein.
Vielleicht hätte sie sich mir anvertraut, wenn ich ein wenig sanfter zu ihr gewesen wäre, dachte sie traurig. Mich hatte sie dazu auserwählt.
Die Krankenschwester hatte von einem Bild gesprochen. Leise öffnete Sonia die Nachttischschublade und fand tatsächlich ein Foto darin. Es war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme und ein wenig verblasst, dennoch konnte sie darauf deutlich die junge Frau sehen, die voller Stolz und Glück ihr Kind in den Armen hielt. Tränen traten Sonia unwillkürlich in die Augen bei dem Gedanken, wie schnell dieses Glück wieder ausgelöscht worden war.
Sie seufzte, sah Bilder ihrer gescheiterten Ehe vorbeiziehen, alle nun in einem ganz anderen Licht. Sie hatte Giovannas Besuche bei ihr immer als eine Form der Kritik verstanden – waren sie das wirklich gewesen, oder waren sie tatsächlich nur der Versuch einer Frau, Zugang zu ihr zu finden? Hatte sie sich nur in den Haushalt eingemischt, um Sonia Zeit zum Lernen zu verschaffen? Einer Frau, die auch den Namen Maria trug, ein Name, der immer noch schmerzliche Erinnerungen in ihr erweckte?
Und als Francesco sie wegen des Namens zur Rede stellte, hatte Giovanna es geleugnet, denn sie brachte es nicht über sich, es ihm zu erklären. Es war alles so einfach, wenn man den Schlüssel zum Geheimnis kannte.
Die Tür hinter ihr wurde leise geöffnet, und Tomaso schlüpfte herein.
“
Grazie”
, seufzte er, als er Sonia sah. “Ich wusste, du würdest wiederkommen.”
“
Poppa
, ich habe es bis vor einer halben Stunde selbst nicht gewusst.”
“Aber ich.” Er tätschelte ihr die Hand. “Denn ich kenne dein Herz.”
Seine Worte machten sie verlegen. “Ich war nicht sehr nett”, murmelte sie. “Sonst hätte ich davon gewusst.” Sie zeigte ihm das Bild. “Warum hat mir nie jemand davon erzählt?”
“Weil sie nie darüber gesprochen hätte”, erklärte Tomaso traurig. “An dem Tag, als unser Baby starb, schloss sie all seine Sachen fort und nahm mir das Versprechen ab, niemals mehr von ihm zu reden. Ich dachte, ihr Herz würde leichter werden, als unser nächstes Kind geboren wurde, aber das war nie der Fall. Unsere Söhne wissen nichts davon. Es ist so, als wäre es nie geschehen.”
“Wolltest du auch auf diese Art mit dem schmerzlichen Verlust fertig werden?”
Er zuckte seltsam verloren mit den Schultern. “Damals … Männer zeigten keine Gefühle … ihr ist wohl nie der Gedanke gekommen, ich könnte ebenso unglücklich sein wie sie.”
“Wir verursachen mit unserer Art eine Menge Leid”, sagte sie leise.
“Wir?”
“Frauen wie Giovanna und ich.”
“Ach, du siehst es nun selbst. Ich habe mich immer gefragt, wann du das begreifst.”
“
Poppa
, was heißt:
No esser come mi?”
“Es heißt, sei nicht so wie ich. Warum fragst du?”
“Als ich das letzte Mal hier war, hat sie es zu mir gesagt. Sie versuchte mich zu warnen. Ja, ich sehe es, aber ich kann nichts daran ändern,
Poppa.
Dazu müsste schon ein Wunder geschehen, und an Wunder glaube ich nicht.”
“Nicht einmal zu Weihnachten?”, fragte er traurig.
“Nicht einmal zu Weihnachten.”
Sonia schaute auf ihre Schwiegermutter, die selbst im Schlaf die Stirn gerunzelt hatte. Heute gibt es psychologische Beratung und Selbsthilfegruppen, dachte sie. Aber vor fünfzig Jahren musste die junge Giovanna Bartini mit ihrem Schmerz fertig werden, indem sie ihn verdrängte. Das Ergebnis war, dass sie sich ein Leben lang damit herumquälte. Bis eine neue Maria in ihrem Leben auftauchte, Hoffnung erweckte, die aber sogleich wieder zerstört wurde. Tiefes Mitgefühl erfasste Sonia, auch wenn sie wusste, es war zu spät, um Giovanna
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