Glockenklang von Campanile
Augen. Ihr Mund war schön geschwungen, aber einen Hauch zu resolut. Der Mund einer Frau, die zu viel hatte kämpfen müssen, zu schwer, zu früh.
Es fehlten noch fünf Minuten zu der vereinbarten Stunde, da wurde an ihre Tür geklopft. Als sie sie öffnete, sah sie niemanden davor stehen, nur eine einzige vollkommene rote Rose lag zu ihren Füßen. Sie schaffte es, sie in ihrem Haar zu befestigen, bevor es zum zweiten Mal klopfte.
Diesmal war er es, und sein Blick flog sofort zur Rose.
“Danke”, sagte er schlicht.
Sie fragte nicht, wohin er sie führte. Welche Rolle spielte es schon? Als sie hinuntergingen, ergriff er ihre Hand und führte sie hinaus ins Sonnenlicht. Und es war ihr, als hätte sie noch nie zuvor das Sonnenlicht gesehen. Er geleitete sie über die Piazza und in eine Gasse, so schmal, dass kein Sonnenlicht hereinfiel, um Ecken, ein paar weitere Gassen entlang, von der jede aussah wie die andere.
“Wie finden Sie sich hier nur zurecht?”, fragte sie verwundert.
“Ich kenne all diese
calles
mein Leben lang.”
“
Calles?”
Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen.
“So heißen die Gassen, diese winzigen Straßen, in denen man spazieren gehen und mit seinen Nachbarn reden kann.”
Irgendetwas in seiner Stimme ließ sie fragen: “Und Sie lieben sie alle, nicht wahr?”
“Jeden einzelnen Stein.”
Als sie die letzte
calle
verließen, blendete sie das grelle Sonnenlicht auf dem Canale Grande. Francesco ergriff wieder fest Sonias Hand und ging mit ihr zu einem der überdachten Tische direkt am Wasser. Während er Kaffee bestellte, schaute sie hinaus auf den belebten Kanal. Alle Boote Venedigs schienen sich hier versammelt zu haben, und über ihnen erhob sich in graziösem Schwung eine breite Brücke mit kleinen Ladengebäuden zu beiden Seiten.
“Das ist die Rialto-Brücke”, erklärte ihr Francesco. “Erinnern Sie sich an Shakespeare? Shylock im
Kaufmann von Venedig?”
“
Was gibt es Neues auf dem Rialto?”
, zitierte Sonia.
“Weil zu der Zeit alle wichtigen Geschäfte dort abgewickelt wurden. Nun befinden sich fast nur noch Schmuckgeschäfte und Obst- und Gemüsestände dort.”
“Sehen Sie sich all diese Boote an!”, rief sie aus. “Gondeln, Motorboote, dicht gedrängt. Rammen sie sich denn nicht gegenseitig? Was ist das da für ein langes Boot mit dem weißen Dach?”
“Ein
vaporetto
, ein Linienbus der städtischen Verkehrsbetriebe. Die
vaporetti
verkehren auf dem Canale Grande.”
Er sprach nicht weiter, und sie schaute dem Treiben zu, verzaubert von der bunten Geschäftigkeit und den sonnigen Farben. Es gab so vieles, das sie fragen wollte, aber nicht jetzt. Trotz des Zaubers um sie herum fühlte sie, wie ein anderer, uralter Zauber Besitz von ihr ergriff. Sie warf Francesco einen kurzen Seitenblick zu, obwohl es eigentlich nicht nötig war. Sie wusste, er beobachtete sie, lächelte dabei.
“Wenn Sie Ihren Kaffee ausgetrunken haben, können wir weitergehen, wenn Sie mögen”, sagte er schließlich. Als sie aufstanden, nahm er wieder ihre Hand und führte sie über die Rialto-Brücke.
Wie er gesagt hatte, gab es einen lebendigen Markt auf der Brücke. Sie blieben vor einem der Stände stehen. Francesco nahm zwei Pfirsiche und reichte Sonia einen. Der stämmige Händler sah ihm grinsend zu, und sein Grinsen verging nicht einmal, als Francesco sagte: “Die Pfirsiche werden auch nicht besser. Ich werde gnädig sein und ein paar mitnehmen.” Damit schlenderte er weiter.
“He!” Sonia und holte ihn ein. “Sollten Sie die Pfirsiche nicht bezahlen?”
“Bezahlen?” Er starrte sie entgeistert an. “Meinen eigenen Cousin bezahlen?”
“Dieser Mann war Ihr Cousin?”
“Das war Giovanni. Jedes Mal, wenn seine Frau sauer auf ihn ist, kommt er zu mir gelaufen, und ich gebe ihm ein hübsches Glaskunstwerk für sie mit, um sie zu beruhigen.”
“Ist sie oft sauer auf ihn?”
Er dachte kurz nach. “Er ist ein guter Ehemann – auf seine Weise. Aber er schaut anderen Frauen nach. Mir gehen bald die Glasvasen aus, und seit Jahren schon bezahle ich kein Obst mehr.”
Sie lachte leise. Es war wirklich verrückt hier, sie kam sich vor wie auf einem anderen Planeten. Sonia spürte, wie gut ihr die unbeschwerte Lebensart unter südlicher Sonne tat.
Später gesellten sich weitere Eindrücke dazu. Venedigs kleine Gassen schienen alle gleich auszusehen, und sie erinnerte sich hier und da nur an markante Details in diesem Labyrinth. Das
Ristorante
Weitere Kostenlose Bücher