Gloriana
angebracht. Sie trat vor. »Wir durchsuchen diese Gänge im Auftrag des Lordkanzlers. Halten Ausschau nach Verrätern, Renegaten und Vagabunden.«
»Aha. Nun, Ihr habt einen gefangen, edle Herren«, sagte Tallow mit einnehmendem Lächeln. »Oder zwei, wenn Ihr so wollt. Mich und Tom. Wir sind Vagabunden. Unverbesserliche Strolche. Aasgeier. Aber keine Verräter, noch sind wir Renegaten, denn wir dienen niemandem, und daher können wir uns gegen niemanden wenden. Wir leben auf eigene Rechnung, Tom und ich.« Er verbeugte sich. Die Katze blieb wie angewachsen auf seiner Schulter. »Ihr seht, daß ich waffenlos bin, geehrte Herren, also kann ich Euch das Duell nicht anbieten, das Ihr wünscht.«
»Ich sprach übereilt«, erwiderte Una mit einer knappen Verbeugung. »Euer unerwartetes Erscheinen hier erschreckte uns.« »Und mich das Eure.« Tallow fand eine Steinbank im Ungewissen Licht und setzte sich. Er schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme auf der Brust und blickte zu ihnen auf. »Nun?«
»Dann kennt Ihr diese Gänge und Schlupfwinkel?«
»Sie sind gegenwärtig meine Wohnung. Bis ich ihrer über
drüssig werde und weiterziehe. Aber ich verstehe mich nicht recht auf die reale Welt, darum ziehe ich es vor, von ihr getrennt zu sein, wie man es notwendigerweise hier ist. Doch bin ich auch von ihr fasziniert. Dies ist die ideale Umgebung für einen Mann von meiner Überzeugung. Und Ihr, edle Herren, seid Lord Montfallcons Männer, wie? Im Dienst der Königin?« »In der Tat«, sagte Gloriana in einem ironischen Ton, der ziemlich offensichtlich war.
»Zuerst vermutete ich in Euch einige der größeren Tiere, die hier hausen«, sagte Tallow. Una argwöhnte, daß diese Bemerkung taktvoll zu einem weniger heiklen Thema überleiten sollte. »Tiere?« fragte die Königin.
»Sie überwintern. Einige beginnen um diese Zeit munter zu werden. Geschöpfe aller Arten. Sie machen das Leben für unsereinen gefährlich.« Er zwinkerte ihnen im Laternenschein zu.
»Nun sagt mir die Wahrheit, edle Herren. Montfallcon wird niemanden in die Wände schicken, um dort die Gänge zu durchstöbern. Das würde nicht zu ihm passen. Ihr seid der drohenden Einkerkerung zuvorgekommen oder aus dem Kerker entwichen und sucht ein Versteck, würde ich mir denken.« »Montfallcon weiß Bescheid?« fragte Gloriana zögernd.
»Über die dunkleren Teile des Palastes? – Freilich. Wenigstens über einige von ihnen. Aber Tallow kennt sie alle. Wollen wir Freunde sein? Dann will ich Euch den Führer machen.« »Einverstanden«, sagte Gloriana, nach Unas Meinung allzu bereitwillig. »Freunde wollen wir sein – und Ihr seid unser Führer, Meister Tallow.«
»Diese Räume führen tiefer und tiefer«, erzählte Tallow. »Zu natürlichen Höhlen, wo blinde weiße Bestien umhertappen und einander verschlingen. Zu Gewölben, die so alt sind, daß sie vor dem ersten Goldenen Zeitalter aus dem anstehenden Felsgestein gehauen sein müssen. Zu seltsamen unterirdischen Klöstern, bewohnt von zwergenhaften Menschen, die hier waren, ehe wahre Menschen auf Erden erschienen. Alles das liegt unter dem Palast, der unter dem Palast liegt. Diese Bereiche, in denen wir uns befinden, sind vergleichsweise jung, nur ein par hundert Jahre alt. Das wahre Altertum ist uns so fremd geworden, daß es unseren Geist verwirrt, wenn wir nur Zeugen seiner Wirklichkeit werden. Und doch weiß ich, daß dort welche leben, in unseren Augen nicht mehr bei Verstand, in ihren eigenen hingegen überaus vernünftig – Männer und Frauen … Ich denke, sie pflanzen sich sogar fort.«
Una reckte ihre zierliche Gestalt. »Ihr wollt uns angst machen, Meister Tallow?«
»Nein, Ihr Herren. Es bereitet mir kein Vergnügen, andere zu erschrecken. Ich spreche davon als einer Kuriosität, das ist alles.« Er hob die Hand und streichelte seine Katze. »Es ist kalt hier.«
»Wahrhaftig«, sagte Gloriana und hauchte. Ihr Atem war weißer Dampf im Laternenschein.
»Ich führe Euch zu den wärmeren Teilen«, sagte Tallow. »Kommt. Ihr könnt einige unserer Schicksalsgenossen kennenlernen – das heißt solche, die nichts dawider haben. Die meisten Leute, die hier hausen, neigen zur Zurückgezogenheit. Darum leben sie hier.« »Wie viele?« fragte Gloriana.
»Ich habe sie nie gezählt, Sir. Hundert, oder zweihundert vielleicht. Die meisten von uns leben von Abfällen. Es gibt auch abergläubisches Dienstpersonal, auf das wir uns verlassen können, Männer und Frauen, die uns für
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