Glück, ich sehe dich anders
bestimmte Zahlenreihe, mathematische Formeln oder Textpassagen für einen Aufsatz. Das Auswendiglernen klappte mit musikalischer Untermalung hervorragend. Wenn ich im Unterricht etwas nicht auf Anhieb wusste, dachte ich an die Liedfolge auf der jeweiligen Kassette, und an einer bestimmten Stelle fiel mir spontan die gesuchte Lösung oder Antwort ein.
Ich erzählte meiner Psychologin von den vielen schlechten Erinnerungen und Erfahrungen und dass sie mich immer noch durch mein Leben begleiten würden. Sie erklärte mir, dass ich diese Dinge noch nicht richtig verarbeitet hätte. Das gekränkte Kind stecke noch in mir, und es trage ganz viel Wut in sich. Mich würde das Gefühl bestimmen, nicht erwünscht zu sein, alles falsch zu machen im Leben, was aber tatsächlich nicht stimmen würde. Ich sei es selbst, die so pessimistisch auf mein Leben blicke, und steigere mich viel zu sehr in die vergangenen Erlebnisse hinein, die doch eigentlich jedes Kind erfahre und durchleben müsse.
Ich unterhielt mich mit Freundinnen über die Erfahrungen, die sie mit ihren Eltern gemacht hatten, und erfuhr, dass ich im Gegensatz zu manch anderer noch recht milde Strafen erhalten hatte. Heute war ich selbst Mutter und wollte alles anders machen: den Kindern ein harmonisches, gemütliches, ruhiges Zuhause bieten und eine rundum glückliche Familie haben. Doch stattdessen hatte ich zwei behinderte Kinder, eins davon zudem an Leukämie erkrankt. Ich empfand es - mal wieder – als ein Gestraftwerden, ich fühlte mich – wie früher schon – ins Abseits gedrängt.
Meine Therapeutin brachte mein Leiden auf den Punkt. Und erstmals lernte ich, meine Kindheits- und Jugenderlebnisse aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und auch meine Eltern zu verstehen.
Nach der bestandenen Realschulprüfung war ich von zu Hause ausgezogen, und ich hatte mir mit meinem ersten Freund eine gemeinsame Wohnung gesucht.
Als meine Eltern uns zum ersten Mal besuchten, fand mein Vater alles schön eingerichtet und war begeistert davon, dass wir jungen Leute so selbstständig zusammenlebten. Er war stolz auf mich. Er brachte eine große Tüte Lebensmittel mit und überreichte uns einen Geldschein. Ich war froh, endlich etwas erreicht zu haben, worauf mein Väter stolz sein konnte.
Ich machte eine Ausbildung zur Büroangestellten und bestand die Prüfung – ebenfalls voller Stolz. Ich bekam eine Anstellung bei der örtlichen Kreisverwaltung und machte viele Überstunden, die ich mir als Mehrlohn auszahlen ließ. So verdiente ich mir nebenbei ein paar Mark, um meinen Führerschein finanzieren zu können.
Die Beziehung mit meinem ersten Freund hielt fünf Jahre. Eines Tages fand ich einen Zettel auf dem Tisch, auf dem stand, dass es für ihn noch zu früh wäre, um eine so feste Bindung einzugehen. Er brauche seinen Freiraum, müsse sich erst einmal austoben. Ich konnte das nicht begreifen. Für mich war alles bestens gewesen. Ich hatte mein eigenes kleines, harmonisches Zuhause genossen, ich wollte es nicht aufgeben. Dass sich mein Freund eingeengt gefühlt hatte, hatte ich nicht gespürt, ich konnte auch nicht nachvollziehen, dass er sich nicht fest binden wollte. Für mich kam die Trennung völlig überraschend. Da ich mir die Wohnung allein nicht leisten konnte, kündigte ich sie und zog wieder bei meinen Eltern ein. Ich empfand es als einen Rückschritt.
Ich lebte bei meinem Eltern in einem kleinen Zimmer. Meine Möbel hatte ich größtenteils bei einer Freundin im Keller untergestellt. Ich war völlig am Ende, und meine Mutter tat alles, um mich wieder aufzubauen. Immer wenn ich das Bedürfnis hatte, konnte ich mit ihr über die Trennung sprechen, mich bei ihr ausweinen. Meinem Vater wurde dies bald zu viel. Er war verärgert, dass ich ständig heulte, ständig fragte, warum mein Freund mich verlassen habe und wie es nur weitergehen solle.
Auch damals fühlte ich mich allein und ins Abseits gedrängt. Und ich suchte nach Schuldigen. Ich machte meine Eltern dafür verantwortlich, dass ich so früh – wahrscheinlich zu früh – von zu Hause ausgezogen war. Ich war der Auffassung, dass sie mir keine behütete Kindheit und keinen Start in ein einigermaßen sorgenfreies Leben bereitet hatten. Ich merkte nicht, dass ich die Schuld immer bei anderen suchte und die Muster der Kindheit dabei nur fortsetzte.
Als ich nun das kleine Zimmer in dem Haus meiner Eltern bewohnte, richtete ich mich nicht auf einen längeren Aufenthalt ein. Ich packte nicht einmal meine
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