Glück, ich sehe dich anders
Loreen. Ich freute mich, denn ich hatte befürchtet, dass Loreen vielleicht panikartig schrie, da der Zug sehr laut war. Sie wippte in ihrem Kinderwagen hin und her und konnte es gar nicht erwarten, in den Zug zu kommen. Als der Zug stillstand, drängten die vielen Menschen auf dem Bahnsteig hektisch in den Zug, jeder wollte der Erste beim Einsteigen sein. In dem Trubel fanden wir nicht so schnell unsere Wagennummer. Ein Bahnangestellter herrschte uns an: »Sehen Sie zu, dass Sie einsteigen! Ihr Abteil ist dort hinten!« Rolf und ich sahen uns an und verdrehten nur die Augen. Wir ließen uns von dieser Panikmache nicht anstecken und stiegen in aller Ruhe in den Zug.
Die Mädchen erkundeten neugierig das Abteil. Sie machten es sich in ihren Sitzen gemütlich und blickten aus dem Fenster. Als der Zug losfuhr, freuten sie sich. Louise zeigte aus dem Fenster und rief: »Da Hau.« Sie hatte dabei auf ein Haus gezeigt. Kurz nach der Abfahrt holte sie die Schaffnerutensilien für sich und Loreen aus meinem Rucksack und blies kräftig in die Pfeife. Loreen erschrak und weinte. Louise stiefelte als Schaffner verkleidet aus dem Abteil Richtung Großraumwagen. Dort begrüßte sie jeden Fahrgast per Handschlag und schwang die Kelle durch die Luft, danach verteilte sie die Spielfahrkarten mit Reiseziel Paris an die fremden Leute. Plötzlich stand die Schaffnerin vor ihr, doch die Dame schimpfte nicht, sondern zeigte Louise, wie man die Fahrkarten entwertete. Louise hatte sehr viel Spaß an diesem Spiel.
Doch die Bahnfahrt dauerte sechs Stunden. Trotz aller Abwechslung für die Kinder war sie für uns alle sehr anstrengend. Rolf und ich waren erleichtert, als wir schließlich ohne besondere Zwischenfälle an unserem Reiseziel ankamen.
Die ersten drei Tage und Nächte in der Kureinrichtung schrie Loreen viel. Es war einfach zu laut und hellhörig in unserer Wohnung. Neben und über uns waren ebenfalls Familien untergebracht. Schon ein nächtliches Betätigen der Klospülung aus der Wohnung über uns ließ Loreen aus dem Schlaf hochschrecken. Sie schrie manchmal drei Stunden am Stück und konnte sich an die Geräusche nicht gewöhnen. Der Schlafentzug setzte uns allen zu. Wir suchten die Kurleitung auf und teilten dieser mit, dass wir am liebsten wieder abreisen wollten, denn bei dieser Hellhörigkeit und den Geräuschen aus den anliegenden Wohnungen würde Loreen nie zur Ruhe kommen. Wir schilderten die behinderungsbedingte extreme Geräuschempfindlichkeit, schienen aber zunächst leider auf wenig Verständnis zu stoßen. Loreen habe sicherlich wie üblich für Kinder Anpassungsstörungen, sagte man uns. Die lange Bahnfahrt, die Umgewöhnung von zu Hause in die Kureinrichtung und die Müdigkeit sollten an Loreens Schreiattacken schuld sein. Wir wussten jedoch, dass wir keine Erholung bekämen, wenn wir nicht wenigstens eine Wohnung im obersten Stockwerk hätten, sodass zumindest niemand über uns wohnte. Glücklicherweise tauschte eine Familie mit uns die Wohnung. Gleich in der ersten Nacht nach diesem Wohnungstausch schlief Loreen ruhig. Es war eine erholsame Nacht für uns alle, und wir saßen morgens ausgeschlafen und gut gelaunt beim Frühstück.
Nach den ersten ärztlichen Untersuchungen bekamen wir unter anderem Bewegungsbäder, Massagen, Krankengymnastik, Entspannungsübungen und Wannenbäder verordnet. Die Kinder wurden vor- und nachmittags sehr gut in kleinen Gruppen betreut. Für Loreen wurde eine Extrabetreuungskraft eingestellt, die ein wachsames Auge auf sie hielt. Während die Kinder gut untergebracht waren, konnten Rolf und ich unsere Anwendungen genießen und uns beim Fitness, Schwimmen, Basteln, bei Wanderungen im Schnee oder beim Faulenzen entspannen.
Was uns aber sehr an der Kureinrichtung störte, war, dass diese in erster Linie auf Krebskinder und nicht auf behinderte Kinder spezialisiert war. Für uns standen jetzt wieder die Behinderungen der Kinder im Vordergrund. Da bei Louise jedoch regelmäßig die Blutwerte kontrolliert werden mussten und diese Kureinrichtung eine optimale ärztliche Versorgung bot, hatten wir uns für diese Einrichtung entschieden. Die Gruppengespräche, die dort angeboten wurden, behandelten in der Regel die Themen Krebs, Angst vor Spätfolgen, Leiden der Geschwisterkinder und Eltern durch die Krebserkrankung und Krebstherapie. Davon wollten wir jedoch am liebsten nichts mehr wissen. Für uns war die Leukämieerkrankung endlich einmal in den Hintergrund getreten, wir wollten das
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