Glück, ich sehe dich anders
hätte Loreen ihre erste Knochenmarkspende geleistet. Vielleicht hat Louise geahnt, dass etwas nicht gut gehen wird. Vielleicht wäre Loreen dabei etwas passiert. Vielleicht hätte Louise es nicht geschafft und wollte Loreen die Eingriffe ersparen. Vielleicht wäre es für beide ungut ausgegangen. Immer hat Louise gezeigt, wenn sie Hilfe benötigte. An ihrem letzten Tag hat sie vergnügt herumgealbert, gelacht und getanzt – so wie an vielen anderen Tagen. Es gab nichts, worüber wir uns hätten Sorgen machen müssen.
In der Nacht ist sie einfach davongegangen. Sie hat es so gewollt.
Wir müssen nun sehen, wie wir ohne sie zurechtkommen. Ihre Lücke werden wir nie schließen können. Louise hat uns viel gelehrt: wie man mit der Behinderung eines Kindes umgeht, wie man gegen eine schwere Erkrankung kämpft, wie man mit seinen Mitmenschen zurechtkommt. Nun lehrt sie uns, wie man Trauer bewältigt.
Ich frage mich jetzt:
Geht es ihr gut?
Wo ist sie?
Will sie, dass ich zu ihr komme?
Was macht sie?
Wer ist bei ihr?
Sieht sie uns?
Auf Antworten warte ich vergeblich. Manchmal träume ich etwas, aber meine Fragen werden mir damit nicht vollständig beantwortet. Ich träume, dass Louise aufwacht. Ich frage sie, wie es ihr geht, und sie antwortet: »Gut!« Ein totes Kind wacht auf und sagt mir, dass alles in Ordnung ist. Somit habe ich eine Frage beantwortet bekommen. Ich träume, dass ich zu ihr will, aber sie wehrt ab. »Mama, ich habe jetzt anderes zu tun. Ich habe keine Zeit für dich!«, höre ich sie. Wieder habe ich eine Frage beantwortet bekommen.
Aber es bleiben noch viele Fragen offen. Ich hoffe, die Antworten in meinen Träumen zu finden.
Lange habe ich nachgedacht, wie ich mich trösten kann. Ich suche Trost in kleinen Geschichten oder lese mir aus Begebenheiten Hinweise heraus, das hilft mir. Ich beobachte und stelle Zusammenhänge fest.
Ein Vogel macht auf unser Auto. Das bringt Glück. Das kommt von oben, denke ich mir. Und ein Regenbogen war zu sehen an dem Tag, als wir die Kapelle, in der Louise lag, das letzte Mal betraten. Danach strahlte die Sonne. Im Innenhof des Krematoriums lief uns ein Eichhörnchen über den Weg. Vielleicht ist Louise nun der kleine König, der über seine Tierwelt herrscht, wie sie es in ihren letzten Lebenstagen immer gesungen hat. »Pim Pam Pom, ich bin der Kleine König«, höre ich sie wieder.
Vielleicht ist es so, dass der liebe Gott die kleinen Kinder vor der Geburt in Familien verteilt. Vielleicht wollte er Louise am liebsten bei sich behalten, weil sie ihm selbst so kostbar erschien, aber aus Platzgründen, weil es dort oben vielleicht zu voll war, musste sie woanders untergebracht werden. Sie kam zu uns, weil der liebe Gott eine ganz besondere Familie aussuchte, die Louise aufnehmen konnte. Vielleicht braucht er sie jetzt wieder und möchte Louise woanders einsetzen. Vielleicht hat sie aber auch einfach nur ihre Arbeit geleistet, uns allen zu vermitteln, wie man unbeschwert lebt und wie man mit einer schweren Krankheit umgeht, und ihre Prüfung bestanden.
Die Engel im Himmel haben viele Aufgaben.
Ich wünsche mir, dass Louise nun unser Schutzengel sein kann.
Als wir Louises Ruhestätte auf dem Friedhof aussuchen sollten, habe ich mir überlegt: ein Grab in der Mitte des Weges? Nein, das sieht so aus, als wäre sie auf halber Strecke liegen geblieben. Louise hat ihr Grab am Ende des Weges. Aber eigentlich ist es nicht unbedingt das Ende des Weges. Es ist auch der Anfang des Weges. Es kommt nur darauf an, von welcher Seite man den Weg betritt.
Nach der Trauerfeier in der Kirche gingen wir in einem langen Trauerzug über die Straße zum Friedhof. Die Straße war kurzzeitig gesperrt worden. Herr Ramcke schritt mit der Urne voran, die er mit beiden Händen festhielt. Hinter ihm ging die Pastorin, dann folgten wir. Ich blickte mich mehrmals um. Ich wollte den bunten Trauerzug sehen.
Wir hatten vorher darum gebeten, dass niemand in Schwarz erscheinen solle. Es waren dennoch einige Personen dunkel gekleidet, ein paar trugen sogar Sonnenbrillen. Sie wollten wohl ihre Tränen verstecken. Es waren auch Leute darunter, die wir gelegentlich beim Einkaufen trafen, die Louise aber kaum eines Blickes gewürdigt und sich nie die Zeit genommen hatten, sich mit uns zu unterhalten.
Louises Teddys nahmen uns in Empfang. Rolf und ich hatten sie vor dem Gottesdienst auf dem Grab neben dem freigeschaufelten Urnenloch platziert. Ernie mit Verband am Arm, den Louise ihm in der
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