Glück, ich sehe dich anders
Das machten wir immer vor dem Schlafengehen. Jeden Abend. Es gehörte zu ihren Gutenachtgeschichten. Ich sang ihr etwas vor, wir legten uns zu ihr in das Bett. Wir begleiteten sie durch den Keller bis an die Tür, wo Achim Ramcke – der Bestatter – mit seinem schwarzen Leichenwagen auf uns wartete. Louise lag mit einem Laken bedeckt auf dem Wagen. Alle, die uns auf dem Weg begegneten, sahen verunsichert und ängstlich auf das Bett. Wie in Zeitlupe nahm ich diese Menschen, ihre Blicke und Bewegungen wahr. Warum durfte man Louise nicht sehen? Sie schlief doch nur. Herr Ramcke lud den kleinen Sarg in seinen Wagen. Er fuhr los und wir hinterher. Mir war dieser Ablauf vertraut. Nichts war mir fremd. Ich hatte Bilder davon in meinem Kopf.
Sieben Tage lag Louise aufgebahrt in der Kapelle. Sie hatte ihr hellblaues Jeanskleid an, das sonnengelbe T-Shirt, ihre rot-weiß gestreifte Jeansjacke, die dunkelblaue Strumpfhose und ihre roten Sandalen. Sie trug das, was sie gern bei besonderen Anlässen trug. Ich bastelte ihr eine goldene Krone, die wir neben das Kopfkissen legten – wir hatten ihre Lieblingsbettwäsche mit Janosch-Motiven bezogen. Sie lag dort wie ein kleiner König auf seinem Thron. Siegessicheres Gesicht, selbstbewusster Ausdruck. Wir legten ihren Haustürschlüssel in ihre Hand. Der Schlüssel befand sich an einem Schlüsselanhänger mit winzigen Holzschuhen, auf denen Louises Name eingraviert war. Dazu legten wir ihre Geldbörse mit sieben Euro und Fotos von uns. Es waren Fotos von ihren letzten Tagen und Wochen.
Wir ließen ihre Musik in der Kappelle spielen, Ma Baker von Boney M., Eisbär, einen Neue-Deutsche-Welle-Song, Pim Pam Pom vom Kleinen König und ihr Lieblingslied Ich baue mir ein Land.
Ich baue mir ein Land,
wo die Bäume wachsen,
wo alle Menschen glücklich sind,
wo niemand sich streitet,
wo Kinder Kinder sind,
wo alle sich lieben …
Loreen fragte nach Louise. Sie wusste, wenn Louise nicht zu Hause war, war sie im Krankenhaus. Sie fragte immer wieder, ob Louise im Krankenhaus sei.
Wir zeigten ihr, wo Louise war. In der Kapelle. Loreen war erfreut. »Louise schläft ein!« Sie ging zu ihr, gab ihr ein Küsschen auf die Wange.
Als wir die Kapelle verließen, rief sie: »Tschüss, Louise. Komme morgen wieda!«
Loreen kam noch einige Male mit in die Kapelle. Doch es wurde ihr spürbar unheimlicher. Sie mochte nicht mehr so gern zu Louise gehen. Sie küsste sie flüchtiger als sonst und ging schnell wieder an das Fußende. »Komm mit, Mama, da lang«, sagte sie.
Loreen spürte Louises Kälte, und sie merkte, dass sie sich nicht mehr bewegte, dass sie tagelang in der immer gleichen Stellung dalag.
Ich hatte Louise auf der Kieler Woche noch einen Zauberring gekauft. Rolf und ich waren wenige Tage vor Louises Tod dort gewesen. Diesen Ring, der je nach Stimmung des Trägers die Farbe wechseln sollte, steckte ich ihr auf den Finger. Er färbte sich nicht mehr blau, grün, rot oder gelb. Er färbte sich schwarz und blieb schwarz.
Unsere Verwandten, Freunde und Nachbarn kamen Louise besuchen. Wir waren jeden Tag um 11 und 17 Uhr und manchmal auch noch dazwischen bei Louise. Es war eine gelöste Atmosphäre, in der wir von Louise Abschied nahmen.
Und dann kam Marita Hoyer, die liebe Krankenschwester aus der Ambulanz der Kinderkrebsklinik. Zwischen Louise und Marita war etwas ganz Besonderes gewesen. Marita erzählte uns in der Kapelle, wie sie Louise kennen gelernt hatte. Ganz frech und spitzbübisch hatte Louise vor ihrem Anmeldetresen gestanden und keck »Na!« gerufen. Marita hatte ebenfalls »Na!« erwidert. Louise wiederholte es. So ging es im Wechsel. Louise kicherte.
Fortan ging Louise durch die Bürotür, um Marita persönlich zu begrüßen. Louise durfte neben Marita auf dem Bürostuhl sitzen, etwas malen, zuschauen, wie Marita den Computer bediente, so tun, als würde sie ihr helfen, Rezepte auszustellen. Eigentlich war es für Besucher und Patienten nicht erlaubt, das Büro zu betreten. Aber bei Louise machte Marita eine Ausnahme. Sie durfte es. Es war eine Bindung zwischen den beiden, die man kaum beschreiben kann. Marita hatte Louise oft in ihrem Zimmer auf der Kinderkrebsstation besucht. Sie hatte Louise Ansichtskarten aus dem Urlaub geschickt und etwas aus dem Urlaub mitgebracht. Und wir erinnerten uns auf einmal wieder an den Tag, an dem Marita und Louise sich das letzte Mal gesehen hatten. Marita besuchte Louise. Sie wollte für ein paar Tage verreisen. Es war nach der
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