Glück muß man haben
zum Aufstehen war, verließ eine andere Marianne das Bett als jene, die in dasselbe am Abend zuvor hineingekrochen war. Sie war härter geworden. Die erste große Enttäuschung ihres Lebens lag hinter ihr. Der Mann, den sie liebte, hatte sich davongemacht. Sie hatte geglaubt, daß auch er sie liebte, aber das war wohl ein Irrtum gewesen, denn sonst hätte er nicht die erste Gelegenheit, die sich ihm bot, dazu benützen können, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die strahlenden Augen, mit denen er sie zuvor immer angesehen hatte, der ganze Anschein, den er sich gegeben hatte, all das konnte nur Schauspielerei gewesen sein. Aber warum das? Warum die Prügeleien für mich? fragte sich Marianne. Wahrscheinlich wußte er das selbst nicht. Wahrscheinlich ist er einer, redete sie sich ein, dem es einfach Spaß macht, gewalttätig zu werden. Oder doch nicht? Sollte man ihn nicht doch noch einmal fragen? Wer ›man‹? Ich selbst natürlich.
Marianne rief sich zur Räson: Ich?! Ich soll ihm nachlaufen und ihn bitten, sich zu erklären?! – Ich nicht!!
Dazu war sie viel zu stolz. Lieber zwang sie sich dazu, selbst ihr ganzes weiteres Leben zu zerstören.
Das gleiche galt für Wilhelm Thürnagel. Auch für ihn gab es kein Zurück mehr. Auch er war ein Sklave seines Stolzes. Man hätte ihn ja für einen Mitgiftjäger halten können …
Wochen vergingen, Wochen, in denen alles die beiden, auf deutsch gesagt, ankotzte. Sie fühlten sich todunglücklich, obwohl es gerade für Wilhelm, wie man so sagt, nicht schlecht lief. Er fand rasch ein Zimmer. Sein Chef besorgte es ihm. Die überhohen Kosten für die Pension entfielen also schon wieder. Dann begann man bei der Firma an eine Beförderung Wilhelms zu denken. Ein zuverlässiges Anzeichen dafür war, daß ihm ein Trupp Elektriker unterstellt wurde. Vorerst probeweise, hieß es, aber das kannte man ja; die Regel war, daß aus einem ›probeweise‹ verhältnismäßig bald ein ›endgültig‹ wurde. Die Hinaufstufung in der Verantwortung bedeutete für Wilhelm natürlich auch ein spürbares Anwachsen seines Verdienstes. Er kaufte sich ein Moped, mit dem er jedoch fast nur zur Arbeit fuhr. Selten benützte er es auch mal dazu, am Sonntag ein bißchen durch die Gegend zu gondeln. In seiner Freizeit lernte er lieber Deutsch. Er tat dies verbissen und machte unglaublich rasche Fortschritte. Er hatte sich ein großes Ziel gesteckt, über das er freilich mit niemandem sprach. Um es zu erreichen, würde er das betreiben müssen, was ›Weiterbildung‹ genannt wurde. Weiterbildung besteht aus Lehrgängen und Schulen. Die erste Voraussetzung, um solchen Anforderungen gewachsen zu sein, sind perfekte Sprachkenntnisse. Wilhelm wußte das und büffelte deshalb fast jeden Abend, oft bis über die Mitternachtsstunde hinaus, deutsche Grammatik. An Vokabeln fehlte es ihm ja ohnehin schon nicht mehr. Sein Ziel war es, Elektro-Ingenieur zu werden. Jeder, der ihn kannte und dem das verraten worden wäre, hätte keinen Augenblick daran gezweifelt, daß er es schaffen würde. Und doch kam alles ganz, ganz anders …
Was war mit Marianne? Nun, sie hatte sich kein Ziel gesteckt. Wenn sie sich selbst fragte, was mit oder aus ihr werden sollte, lautete die eigene Antwort, die sie sich gab: eine alte Jungfer. Interessen, welche dieser Gefahr vorgebeugt hätten, hegte sie keine mehr. Die Menschheit schien für sie nur noch aus einem Geschlecht zu bestehen – dem eigenen. Lediglich nachts, wenn sie schlief, war das anders. Dann wurde sie, ihrem Empfinden nach, von Träumen ›verfolgt‹, über die sie keine Gewalt besaß und die alle denselben Namen trugen – Wilhelm.
Marianne war das unglücklichste Mädchen, das der Erdball trug, doch sie wäre lieber gestorben, als auch nur einen einzigen Schritt zu tun, der geeignet gewesen wäre, ihr inneres Elend abzuwenden. Dazu war sie eben zu stolz.
Zwischen Marianne und Wilhelm waren also gewissermaßen die Fronten total verhärtet. An einem Freitagnachmittag aber kamen sie wieder in Bewegung. Davon ahnten allerdings vorläufig weder Marianne noch Wilhelm etwas. Zu sehen war das – im Rückblick – erst wieder Wochen später.
Wie gesagt, an einem Freitagnachmittag …
Wilhelm machte mit seinem Trupp Feierabend. Während die Männer ihr Gerät zusammenpackten, unterhielten sich zwei über ein wichtiges Ereignis, das unmittelbar vor der Tür stand – ein Fußballspiel der firmeneigenen Mannschaft. Die beiden gehörten dieser an. Sie nahm an der
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