Glück muß man haben
8.45 Uhr morgens. Der Beginn der Verhandlung war auf 9.00 Uhr festgesetzt. Auf dem Flur vor dem Gerichtssaal fanden sich nach und nach alle Beteiligten ein. Die meisten waren schon da. Auf der einen Seite versammelte sich das Aufgebot des Staatsanwalts: der Verletzte namens Georg Kozurka; zwei Freunde von ihm, die damals zusammen mit ihm das Kino hatten besuchen wollen; die Dame an der Kasse; überraschenderweise auch Frau Wanda Krupinsky, Wilhelms ehemalige Zimmerwirtin.
Auf der anderen Seite des Flurs stand Rechtsanwalt Dr. Bernin mit seinem Mandanten Thürnagel und sprach leise auf ihn ein. Zu den beiden hatte sich Peter Storm, Wilhelms Chef, gesellt und rauchte eine Zigarette nach der anderen; ein Zeichen seiner Nervosität. Marianne fehlte noch.
Einen Fremdkörper unter allen Anwesenden auf dem Flur stellte Stummel dar. Er hatte mit der Verhandlung direkt nichts zu tun, war weder ein Verletzter, noch ein Zeuge der Anklage, noch ein Zeuge der Verteidigung. Und trotzdem gehörte er dazu – wie sehr, das sollte sich noch herausstellen.
»Also«, raunte Dr. Bernin, »beherzigen Sie, was ich Ihnen gesagt habe, Herr Thürnagel. Beschuldigen Sie sich nicht selbst. Als Angeklagter sind Sie dazu nicht verpflichtet.«
»Nein«, meinte Wilhelm reichlich fatalistisch. Es schien ihm an Engagement zu fehlen. Man konnte den Eindruck haben, daß er das Ganze als ein ihm irgendwie unbegreifliches Theater ansah.
Stummel machte sich an die Personengruppe ran, die das Aufgebot des Staatsanwalts darstellte.
Auf der Treppe erschien Marianne. Sie hatte ein dunkles Kostüm an, war blaß, hatte deutlich abgenommen und sah trotzdem noch wunderbar aus. Wilhelm entdeckte sie sofort. Im Gegensatz zu ihr schoß ihm die Röte ins Gesicht. Dr. Bernin machte sie und Storm miteinander bekannt. Erst nachdem dies geschehen war, kam auch Wilhelm an die Reihe, von ihr begrüßt zu werden. Sie gab ihm mit einem kleinen Lächeln die Hand und sagte: »Guten Tag, Wilhelm.«
»Was machst du hier?« kam es schroff aus seinem Mund.
»Ich werde aussagen.«
»Das wirst du nicht!«
»Doch.«
Wilhelm erriet natürlich, wem das zu verdanken war, und wandte sich dem Betreffenden zu. Mit einem Blick, vor dem man sich fürchten mußte, fuhr er ihn an: »Herr Rechtsanwalt, ich habe Ihnen ausdrücklich gesagt, daß ich das nicht will!«
Ehe Dr. Bernin ein Wort der Rechtfertigung äußern konnte, meinte Marianne ruhig: »Wilhelm, was du diesbezüglich gesagt hast – zu wem immer –, das spielt überhaupt keine Rolle. Es ist mein Wille, hier aufzutreten, verstehst du?«
Wilhelm war noch röter geworden, Marianne noch blasser. Ihr Blässe war aber kein Zeichen der Schwäche.
»Einzig und allein mein Wille!« setzte sie noch eins drauf.
»Und es ist meine Verhandlung!«
Der lächerliche Besitzanspruch, den Wilhelm damit erhob, hätte eigentlich Belustigung erregen müssen, tat es aber nicht, denn dazu war die Situation zu ernst. Dr. Bernin dachte an die Verhandlung, die vor der Tür stand, und sagte zu Peter Storm: »Das kann ja heiter werden.«
Daraufhin glaubte Storm, als Chef Wilhelms etwas erreichen zu können.
»Verdammt noch mal, Thürnagel«, schimpfte er, »spielen Sie hier nicht verrückt, sonst gehen wir alle nach Hause und lassen Sie allein die Sache durchstehen!«
»Das wäre mir auch am liebsten!«
Und das war und blieb die Einstellung, mit der Wilhelm in die Verhandlung ging, denn gleich darauf öffnete sich die Tür des Saales und der Gerichtsdiener forderte alle auf, einzutreten.
Eine Gerichtsverhandlung beginnt mit der sogenannten Zeugenbelehrung, in der sowohl den Zeugen der Anklage als auch denen der Verteidigung vom Vorsitzenden unter Androhung empfindlicher Strafen gesagt wird, daß sie die reine Wahrheit zu sagen hätten – und nichts als diese. Dann werden sie alle wieder hinausgeschickt aus dem Saal, um draußen ihren Aufruf – jeder einzeln – abzuwarten. Zurück bleibt nur der Angeklagte. Die Anklageschrift wird verlesen. Wenn das geschehen ist, setzt die Vernehmung des Angeklagten ein.
»Herr Thürnagel«, sagte der Richter, »Sie haben gehört, was Ihnen zum Vorwurf gemacht wird. Haben Sie auch alles genau verstanden?«
»Ja.«
»Brauchen wir keinen Dolmetscher?«
»Nein.«
»Es könnte ja sein«, meinte der Richter mit nachsichtiger Miene, »daß Ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichen. Sagen Sie uns das aber lieber gleich, damit sich davon nicht eventuell nachträglich Berufungsgründe ableiten lassen.«
Dr.
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