Glücklich die Glücklichen
soll. Früher achtete ich nie auf die schwindelerregende Schleife von Tag und Nacht, ich wusste nicht mal, ob es Morgen war, Nachmittag oder Gott weiß wann. Ich ging ins Ministerium, ich ging in die Bank, ich lief den Frauen nach und dachte nie an mögliche Folgen. Noch heute kommt es vor, dass ich munter genug bin, um ein bisschen zu flirten, aber ab einem gewissen Alter sind die Präliminarien ermüdend. Jeannette sagt, man kann sich auch für eine Einäscherung entscheiden, ohne die Asche nachher verstreuen zu lassen. Ich reagiere nicht mal. Ich kehre zu meiner kybernetischen Pseudotätigkeit zurück. Ich bin nicht dagegen, etwas Neues zu lernen, aber mit welchem Ziel ? Um meine Hirnzellen zu stimulieren, sagt meine Tochter. Wird das meine Sicht auf die Welt verändern ? Es gibt schon genug Pollen und Sauereien in der Luft, man muss nicht auch den Staub des Todes hinzufügen, das ist gar nicht nötig, sagt Jeannette. – Ich frage jemand anders, sage ich. Odile oder Robert. Oder Jean, aber ich fürchte, der geht vor mir dahin, der Idiot. Am letzten Dienstag war er nicht gerade toll in Form, fand ich. Streut mich in die Braive. Ich gehe zu meinem Vater. Nur achte darauf, dass mir keine Zeremonie, kein Bestattungsritual oder irgendein anderes Affentheater aufgezwungen wird, keine weihevollen und faden Worte. – Wer weiß, vielleicht sterbe ich auch vor dir, sagt Jeannette. – Nein, nein, du bist zäh. – Wenn ich vor dir sterbe, Ernest, dann will ich eine Aussegnungsfeier, und du sollst erzählen, wie du in Roquebrune um meine Hand angehalten hast. Arme Jeannette. In einer Zeit, die nur mehr eine diffuse Masse ist, machte ich ihr durch das Guckloch eines mittelalterlichen Kerkers, in den ich sie gesperrt hatte, einen Heiratsantrag. Wenn sie wüsste, dass Roquebrune für mich jegliche Bedeutung verloren hat. Dass diese Vergangenheit sich aufgelöst und verflüchtigt hat. Zwei Menschen leben nebeneinander, und ihre Phantasie entfernt sie jeden Tag ein bisschen weiter voneinander. Ihr Frauen baut euch in eurem Innern verzauberte Paläste. Irgendwo da drinnen seid ihr mumifiziert, aber davon wisst ihr nichts. Keine Freizügigkeit, keine Gewissenlosigkeit, keine Grausamkeit wird als wirklich wahrgenommen. Und an der Schwelle zur Ewigkeit sollen wir dann eine Geschichte vom Jüngling und der Maid erzählen. Alles ist Missverständnis und Lähmung. – Rechne nicht damit, Jeannette. Ich werde vor dir gehen, zum Glück. Und du wirst meine Einäscherung miterleben. Es riecht auch nicht mehr nach gebratenem Schwein wie früher, keine Sorge. Jeannette schiebt ihren Stuhl zurück und steht auf. Sie wirft ihren Lappen auf den Tisch. Sie macht den Gasherd aus, wo das Wasser meiner Eier verkocht, und zieht den Stecker des Toasters heraus. Als sie aus der Küche geht, wirft sie mir noch hin, zum Glück hat dein Vater sich nicht in Stücke schneiden lassen, sonst würdest du das auch machen. Ich glaube, die Deckenlampe schaltet sie auch aus. Der Tag bringt überhaupt kein Licht, und ich bleibe in einer düsteren Rumpelkammer hocken. Aus meiner Tasche ziehe ich das Päckchen Gauloises. Ich habe Doktor Ayoun versprochen, nicht mehr zu rauchen. So wie ich ihm versprochen habe, Salat und gegrillte Steaks zu essen. Er ist nett, dieser Ayoun. Eine einzige wird mich schon nicht umbringen. Meine Augen fallen auf den hölzernen Krabbenkescher, der seit Jahren an der Wand hängt. Er ist fünfzig Jahre alt, irgendwer hat mal mit ihm unter Algen und in Felsspalten gefischt. Früher steckte Jeannette immer kleine Thymiansträußchen, Lorbeer, alle möglichen Kräuter in das Netz. Die Gegenstände häufen sich an und dienen zu nichts mehr. Genau wie wir. Ich lausche dem Regen, der etwas leiser geworden ist. Der Wind ebenso. Ich klappe den Laptop zu. Alles, was vor unseren Augen liegt, ist bereits Vergangenheit. Ich bin nicht traurig. Die Dinge sind zum Verschwinden gemacht. Ich werde ohne großes Aufheben gehen. Weder Sarg noch Knochen hinterlassen. Alles wird weitergehen wie immer. Alles wird fröhlich vom Wasser davongetragen.
Philip Chemla
Ich würde gern das Leid der Liebe spüren. Neulich Abend habe ich im Theater diesen Satz gehört: »Traurigkeit nach intimem Geschlechtsverkehr ist einem natürlich vertraut. (...) Ja, man ist darauf gefasst, ihr zu begegnen.« Das war in Glückliche Tage von Beckett. Glückliche Tage der Traurigkeit, die ich nicht kenne. Ich träume nicht von Vereinigung oder Idylle, von überhaupt keinem
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