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Glücklich die Glücklichen

Glücklich die Glücklichen

Titel: Glücklich die Glücklichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Reza
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sentimentalen Glück, das mehr oder weniger dauerhaft ist, nein, ich möchte gern eine bestimmte Form der Traurigkeit kennenlernen. Ich erahne sie. Vielleicht habe ich sie schon einmal empfunden. Ein Gefühl auf halbem Wege zwischen der Sehnsucht und dem schweren Herzen der Kindheit. Ich möchte gern zwischen den Hunderten von Körpern, die ich begehre, auf den einen stoßen, dem es gegeben ist, mich zu verletzen. Selbst von weitem, selbst abwesend, selbst auf einem Bett hingestreckt, mir den Rücken zukehrend. Auf einen Liebhaber, mit einer unkenntlichen Klinge gerüstet, die mir die Haut abzieht. Das ist die Signatur der Liebe, das weiß ich aus den Büchern, die ich las, früher, bevor mir die Medizin alle Zeit raubte. Zwischen meinem Bruder und mir wurde nie ein Wort verloren. Als ich zehn war, ist er zum ersten Mal in mein Bett gekommen. Er war fünf Jahre älter als ich. Die Tür war angelehnt. Ich begriff nicht ganz, was da passierte, aber ich wusste, dass es verboten war. Ich erinnere mich nicht genau an das, was wir gemacht haben. Jahrelang. Es wurde gestreichelt und gerieben. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem er gekommen ist, und auch an meinen ersten Höhepunkt. Sonst nichts. Ich weiß nicht mehr genau, ob wir uns geküsst haben, aber wenn ich danach gehe, welchen Stellenwert das Küssen später in meinem Leben bekam, dann bestimmt. Mit der Zeit und bis zu seiner Heirat war ich es dann, der zu ihm kam. Kein Wort fiel zwischen uns. Außer nein , wenn ich ankam. Er sagte nein, aber er ließ sich immer wieder darauf ein. Ich kann mich zwischen meinem Bruder und mir nur an Schweigen erinnern. Kein Austausch, keine Sprache, die ein erträumtes Leben hätte nähren können. Keine Überschneidung zwischen Gefühl und Sex. Hinten im Garten stand die Garage. Durch eine kaputte Scheibe betrachtete ich das Leben auf der Straße. Eines Nachts sah mich ein Müllmann und zwinkerte mir zu. Es war Nacht und dunkel, der verbotene Mann auf seinem Wagen. Später, als ich nicht mehr so jung war, ging ich auf die Jagd nach Müllmännern. Mein Vater hatte ein Abo der Reihe Lebendiges Afrika . Ein Bruder von ihm lebte in Guinea. Das war mein erstes Pornoheft. Dunkel glänzende Körper auf glänzendem Papier. Massige, Geborgenheit ausstrahlende Bauern glitzerten, fast nackt, auf den Seiten. An einer Wand, über meinem Bett, hatte ich Nofretete aufgehängt. Sie wachte wie eine unberührbare, finstere Ikone über mich. Vor der Internatszeit ging ich in die Grünanlagen der Stadt und bot mich den Arabern an. Ich sagte, benutz mich. Eines Tages merkte ich, während wir uns in einem Treppenhaus auszogen, dass der Typ mir mein Geld klauen wollte. Ich sagte, willst du Geld ? Er schmolz in meinen Armen dahin. Alles wurde einfach, fast zärtlich. Mein Vater weiß von einem Teil meines Lebens absolut nichts. Er ist ein aufrechter Mann, die Herkunft ist ihm wichtig. Ein authentischer, guter Jude. Ich denke oft an ihn. Ich fühle mich freier, seit ich bezahle. Das legitimiert meine Rolle, auch wenn ich dann das Machtverhältnis wiederherstellen muss. Mit bestimmten Jungen komme ich ins Gespräch. Ich erkundige mich nach ihrem Leben, ich bezeuge ihnen meine Wertschätzung. Insgeheim sage ich zu meinem Vater, eine kleine Macke gibt es da schon, aber den grundsätzlichen Weg halte ich ein. Samstagabends oder manchmal auch unter der Woche gehe ich nach Dienstschluss in den Bois de Boulogne, in die Kinos, in die Gegenden, wo sich Jungs nach meinem Geschmack finden lassen. Ich sage zu ihnen, ich steh auf große Schwänze. Ich will sie sehen. Sie holen sie raus. Mal steif, mal nicht. Wenn ich mir jemanden aussuche, will ich seit einiger Zeit wissen, ob er auch Ohrfeigen gibt. (Für Ohrfeigen zahle ich keinen höheren Satz. Ohrfeigen dürfen nicht Teil der Verhandlungen werden.) Früher stellte ich diese Frage irgendwann mittendrin. Heute frage ich gleich danach. Es ist eine unvollendete Frage. Eigentlich müsste sie lauten: Gibst du Ohrfeigen ? Und sofort danach: Tröstest du ? Das kann man nicht fragen. Man kann auch nicht sagen, tröste mich. Allerhöchstens: Streichle mein Gesicht, weiter kann ich nicht gehen. Mehr würde ich nicht wagen. Bestimmte Worte haben da keinen Platz. Seltsamer Befehl, tröste mich . Zwischen all den anderen Imperativen, leck mich, schlag mich, küss mich, steck mir deine Zunge rein (viele tun das nicht), kann man sich »tröste mich« nicht vorstellen. Was ich wirklich will, kann ich nicht äußern. Ins

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