Glücklich die Glücklichen
Gesicht geschlagen werden, mein Gesicht den Schlägen hinhalten, meine Lippen, meine Zähne, meine Augen darbieten und dann ganz plötzlich liebkost werden, wenn ich es nicht erwarte, und dann wieder geschlagen werden, im richtigen Rhythmus, im richtigen Maß, und nachdem ich gekommen bin, in die Arme genommen und mit Küssen bedeckt werden. Diese Vollkommenheit gibt es nicht, außer vielleicht in der Liebe, die ich eben nicht kenne. Seit ich bezahle und Ansagen mache, bin ich unabhängig. Ich tue das, was ich im realen Leben nicht zu erreichen weiß: ich gehe auf die Knie, ich liefere mich aus. Ich bohre meine Knie in die Erde. Ich begebe mich in die totale Unterwerfung. Das Geld verbindet uns wie jede beliebige andere Bindung. Der Ägypter legte mir die Hände aufs Gesicht. Er nahm mein Gesicht, die Handflächen an meinen Wangen. Meine Mutter machte diese Geste, wenn ich eine Ohrentzündung hatte, sie wollte das Brennen des Fiebers mit ihren Händen lindern. Sonst, im Alltag, war sie eher distanziert. Der Ägypter leckte mir über den Mund und verschwand in der Nacht, so wie die Müllmänner damals. Seitdem suche ich ihn. Ich wandere über Nebenwege, gehe in die abgelegenen Ecken des Bois. Er ist nicht da. Wenn ich mich anstrenge, spüre ich noch die Feuchtigkeit seiner Zunge auf den Lippen. Das atemberaubende Kondensat von etwas, das ich nicht kenne. Jean Ehrenfried, ein Patient, den ich gern mag, hat mir die Duineser Elegien von Rilke geschenkt. Er sagte, Lyrik, Doktor Chemla, vielleicht haben Sie Zeit dafür ? Vor meinen Augen schlug er das Buch auf und las mir die ersten Worte vor (da fiel mir nebenbei auf, dass seine Stimmkraft seit unserem letzten Termin nachgelassen hatte), »Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen ?« Ein schmales Buch. Es liegt neben meinem Bett. Ich habe den Satz noch einmal gelesen und dabei an Ehrenfrieds schwächelnde Stimme gedacht, seine Kombinationen aus gepunkteten Krawatten und originellen Einstecktüchern. Seit Wochen wartet die Lyrik unter der Lampe auf mich. Jeden Morgen stehe ich um halb sieben auf. Eine Stunde später kommt mein erster Patient. Etwa dreißig schaffe ich pro Tag. Ich unterrichte, meine Artikel erscheinen in internationalen Zeitschriften für Strahlentherapie und Onkologie, ich mache im Jahr ungefähr fünfzehn Kongresse mit. Ich habe keine Zeit mehr, meinem Leben ein Ziel zu geben. Manchmal schleppen mich Freunde ins Theater mit. Vor kurzem habe ich Glückliche Tage gesehen. Ein kleiner Sonnenschirm unter einer niederdrückenden Sonne. Der Körper, der langsam, aber sicher einsinkt, von der Erde eingesogen, der Mensch, der mit leichtem Herzen weiterleben will und sich über winzige Überraschungen freut. Das kenne ich. Das erstaunt mich jeden Tag. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich weitere Worte hören will. Dichter haben keinen Sinn für die Zeit. Diese Leute ziehen einen in fruchtlose Melancholie hinein. Ich hatte den Ägypter nicht um seine Telefonnummer gebeten. Das tue ich normalerweise nie. Wozu auch ? Es ist schon mal vorgekommen. Aber bei ihm nicht. Irgendwo in mir hat er eine Spur hinterlassen, die ich nicht zu fassen bekomme. Vielleicht hat das mit diesem bösen Geist von Beckett zu tun. Im Bois, hinter dem Zaun Richtung Passy, bin ich nicht nach dem Ägypter auf der Suche. Den habe ich sogar in den Toilettenkabinen gesucht, wo er nie zu sehen war. Es geht um ein Fluidum der Traurigkeit. Etwas Ungreifbares, tiefer, als wir einschätzen können, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Mein Leben ist schön. Ich tue etwas, das ich liebe. Morgens bin ich schon beim Aufstehen fit wie ein Turnschuh. Ich habe festgestellt, dass ich stark bin. Ich meine, entscheidungsstark, risikofreudig. Die Patienten haben meine Handynummer, sie können mich rund um die Uhr anrufen. Ich verdanke ihnen viel. Ich möchte ihnen gerecht werden (auch aus diesem Grund will ich mich auf dem Laufenden halten und mich nicht auf die klinische Krebsforschung beschränken). Ich weiß seit langem, dass es den Tod gibt. Bevor ich mich für Medizin entschied, tickte schon die Uhr in meinem Kopf. Ich bin meinem Bruder nicht böse. Ich weiß nicht einmal, welchen Platz genau er in meinem Leben einnimmt. Die menschliche Komplexität lässt sich nicht auf ein Kausalitätsprinzip reduzieren. Vielleicht hätte ich auch ohne diese Jahre des Schweigens den Mut gefunden, das Risiko einer Beziehung einzugehen, in der beides vorkommt, Sex und Liebe. Wer weiß
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