Gluecklich, wer vergisst
Mein Mund war so trocken, dass ich kein Wort herausbrachte. Auch Albert schien es die Sprache verschlagen zu haben. Ich griff nach seiner Hand. Sie war kalt wie Eis. Ich ließ sie sofort wieder los. Wir vermieden es, einander anzusehen, starrten fassungslos auf das grauenhafte Bild, das sich uns bot.
„Der Heinz …“, stammelte Albert schließlich und verbarg das Gesicht in seinen Händen. Ich legte meinen Arm um seine bebenden Schultern.
„Bist du dir sicher, dass es Heinzis Kopf ist? Das Gesicht ist völlig zerstört.“
„Es ist sein Kopf. Aber wo ist sein Körper?“
Ich ertrug seinen starren Blick nicht länger, schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch, bevor ich sagte: „Er war dein bester Freund, oder?“
„Ja, was für ein Freund!“
Meinte er es zynisch? Ich hatte schon als Mädchen nicht verstanden, was diese beiden höchst unterschiedlichen Burschen miteinander verband. Die einzige Gemeinsamkeit, die man auf den ersten Blick hatte feststellen können, war ihre Wortkargheit gewesen. Wenn ich abends schwimmen gegangen war, hatte ich die beiden oft schweigend nebeneinander am Steg sitzen gesehen.
Trotz meiner Übelkeit blickte ich mich noch einmal im Bootshaus um. Die dunklen Flecken auf dem Bretterboden und die blutbeschmierten Wände wiesen darauf hin, dass der Mord hier begangen worden war. Allerdings lagen weder Kleidungsstücke noch andere Habseligkeiten des Opfers herum. Auch keine Tatwaffe.
„Wir müssen sofort die Polizei anrufen. Hast du ein Handy dabei?“
„Hast du das schon vergessen – ich besitze kein Handy.“
Und meines liegt auf dem Nachtkästchen in meinem Zimmer, dachte ich.
„Hast du wenigstens eine Karte für die Telefonzelle?“
Albert antwortete nicht. Ich zerrte ihn mehr oder weniger aus dem Boothaus.
Der Wind hatte nicht nur den Nebel vertrieben, sondern auch die Sonne.
Regen hing in der Luft. Der dunkelgraue Himmel wirkte verdächtig ruhig, er versprach einen kräftigen Schauer.
Wir warteten im Schloss auf das Eintreffen der Kriminalpolizei. Ich rauchte eine Zigarette auf der Terrasse. Es war bereits meine fünfte an diesem Vormittag. War es nicht eigenartig, dass keiner außer Albert um den toten Heinz zu trauern schien? Auch Philip Mankur schien keiner der Schlossbewohner eine Träne nachzuweinen, nicht einmal seine Frau. Ich begegnete den beiden Toten ebenfalls ziemlich gleichgültig, ich hatte weder für Philip noch für Heinz viel übrig gehabt.
Ein Streifenwagen raste mit eingeschaltetem Blaulicht und durchdrehenden Reifen die Schotterstraße herauf. Mir entkam ein Grinsen. Die Dorfpolizei hielt sich wohl für Miami Vice.
Walpurga, die einen der Beamten gut zu kennen schien, bot den beiden Männern im Salon Kaffee an und begann, sie auszufragen. Wie sich bald herausstellte, war der junge Bezirksinspektor namens Wolfi ein ehemaliger Schüler von ihr. Er spielte die zweite Trompete bei der Blasmusikkapelle. Wolfi erteilte seiner ehemaligen Musiklehrerin bereitwillig Auskunft.
„Das Seegrundstück haben wir bereits abgeriegelt. Der Karner hält vor Ihrem Bootshaus Wache. Mein Kollege und ich haben die Aufgabe, mit Ihnen, verehrte Frau Baronin, und mit den anderen Bewohnern von Schloss Welschenbach auf die Kriminalpolizei zu warten.“
In diesem respektvollen Ton ging es weiter.
Das Problem unserer Exekutive ist, dass diese Art von Beruf nicht nur Menschen anzieht, die gern Autorität ausüben, sondern dass diese Menschen gleichzeitig auch sehr autoritätshörig sind. Und eine ehemalige Lehrerin ist eben eine Autorität fürs Leben, dachte ich.
Unwillkürlich musste ich an Jan Serners muffelige Art und seine Verschwiegenheit nach dem Mord an der Astrologin Marlene Helmer denken. Wir hatten uns anlässlich dieses Mordfalles kennengelernt. Wenn ich daran dachte, dass ich damals seine Hauptverdächtige gewesen war, musste ich jetzt noch kichern. Rasch täuschte ich Raucherhusten vor.
Albert, der vollkommen lethargisch in seinem Ohrensessel neben dem Kamin lehnte, schreckte bei meinem Hustenanfall kurz auf.
Mario und Wolfi waren fast im gleichen Alter. Sie schienen sich gut zu kennen. Als Walpurga Kaffee kochen ging, hielt Mario das Gespräch in Gang. Ich fühlte mich nicht dazugehörig und trug genauso wenig zu ihrer Unterhaltung bei wie Albert.
Als es läutete, ging ich zur Tür und öffnete. Ein kräftiger, dunkelhaariger Mann mittleren Alters streckte mir seine Hand hin. Er war mir fremd, und doch erkannte ich ihn sofort. Er blickte
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