Glückliche Ehe
So hatte sie sich darauf vorbereiten können, die sichtbaren Auswirkungen der Krankheit und der strapaziösen Behandlungsmaßnahmen bestmöglich zu kaschieren. Zweimal war Gregory wegen einer schweren Krise ungeplant nach New York gekommen und hatte Margaret in ungeschöntem Zustand vorgefunden: ohne Perücke, durch ein Kliniknachthemd nur unzureichend bedeckt, zu fiebrig oder zu schwach, um ihre übliche Gesprächsenergie zu mobilisieren, zu deprimiert, weil sie wusste, dass sie nicht mehr miterleben würde, wie ihr Erstgeborener ein dicker, kahlköpfiger und bedeutender Mann sein würde. Gregory hatte verwirrt gewirkt, wenn seine Mutter die Gespräche mit ihm manchmal sehr kurz hielt, aber Enrique hatte verstanden, warum sie das tat. In dem Maß, wie die Hoffnung auf Heilung schwand, war es ihr unmöglich geworden, ihre Söhne längere Zeit zu sehen, ohne dass ihr die Tränen kamen. Sie hatte ihnen das Einzige ersparen wollen, was sie ihnen ersparen konnte – ihren Schmerz, weil sie sie verlassen musste.
Greg war tapfer gewesen, als er seine Mutter in den beiden Krisensituationen so elend gesehen hatte. Max ebenfalls. Doch da Max während ihrer gesamten Krankheit zu Hause gewohnt hatte, hatte er solche und schlimmere Dinge viel öfter mitbekommen und stoisch hinzunehmen gelernt. Wegen ihrer schweren Infektionen und der zunehmenden Probleme mit ihrem blockierten Verdauungstrakt hatte Enrique Margaret mindestens ein Dutzend Mal mitten in der Nacht in die Notaufnahme des Sloankettering gebracht und seinen Sohn ohne Vorwarnung allein gelassen. Enrique hatte ihm dann einen Zettel hingelegt oder sich, wenn Max’ Nachttischlampe noch brannte, kurz auf seine Bettkante gesetzt und ihm erklärt, was los war, oder er hatte sich manchmal einfach darauf verlassen, dass er wieder da sein würde,bevor Max’ Wecker um sieben Uhr morgens schrillte. Gregory hatte während seiner ganzen unglücklichen Highschooljahre eine gesunde Mutter gehabt. Er hatte, sicher nicht immer zu seiner Freude, in der stressigen, aufregenden Umbruchphase der Collegebewerbungen und des Auszugs von zu Hause die volle Aufmerksamkeit beider Eltern gehabt. Max war in diesen Jahren um ihrer beider Aufmerksamkeit gebracht worden.
Keiner der beiden hatte sich je bei Enrique über den körperlichen Verfall ihrer Mutter beklagt. Was sie sagten, war immer kurz und klar gewesen. »Es ist schrecklich. Hoffentlich geht’s ihr bald besser.« Sie hatten simple, direkte Fragen zu den ärztlichen Maßnahmen gestellt: »Können die Ärzte nichts dagegen machen, dass sie nichts essen und trinken kann?« Und die am schwersten zu beantwortende Frage: »Wird sie wieder gesund?« – bis Enrique ihnen im September erklärt hatte, dass ihre Mutter mit medizinischen Mitteln nicht zu heilen war.
Beide Söhne hatten immer schon verschieden auf ihre Mutter reagiert. Gregory war ein gehorsamer Junge gewesen, so eingeschüchtert von Margaret, dass er, wenn sie nur scharf seinen Namen sagte, zusammenschreckte. »Ich weiß nicht, ob das so gut ist«, hatte er im Extremfall geantwortet und sich dann verdrossen jeder weiteren Diskussion entzogen. Er leistete, wenn irgend möglich und kaum merklich, passiven Widerstand, um Konfrontationen weitestgehend zu vermeiden, aber gleichzeitig nicht zu kapitulieren. Wenn er sich entschloss, nachzugeben und zu tun, was sie wollte, tat er es mit der gleichen leicht gequälten Miene, die auch Margaret aufsetzte, wenn sie sich von ihrer Mutter schikaniert fühlte. Gregory wünschte sich ein friedliches und freundliches Verhältnis zu seiner Mutter – wie auch Margaret zu ihrer.
Also hatte es Enrique nicht erstaunt, als Gregory, nachdem er fünfeinhalb Stunden oben bei seiner Mutter gewesenwar, mit einem friedlichen Gesichtsausdruck die Treppe herunterkam. Er blieb im Essbereich stehen, ein ganzes Stück vom Sofa entfernt, wo sein Vater saß, und betrachtete ihn, nachdenklich, wie es Enrique schien, durch seine hippen rechteckigen Brillengläser. Erleichtert, dass er so ruhig wirkte, ging Enrique auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Von nahem erkannte er, dass er sich getäuscht hatte. Die blauen Augen seines Sohns waren zwar trocken, aber Enrique sah den Schmerz darin.
Greg senkte den Blick und stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Um ihn zu trösten, wollte Enrique seinen Sohn an sich drücken. Greg war fast so groß wie sein Vater und breiter um Brust und Schultern, als es Enrique je gewesen war. Margaret hatte ihn immer ihr Bärchen genannt,
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