Glückliche Ehe
er war sich nicht sicher. Er wusste, was sie über die Theaterstücke und Filme dachte, die sie zusammen gesehen hatten. Er wusste, was sie über ihre Freunde, über ihre jeweiligen Familien und über Gregory dachte. Er wusste, was sie über Ronald Reagan dachte und über die Pflicht der Hundebesitzer, den Kot ihrer Hunde einzusammeln. Aber er wusste nicht, was sie über ihre Ehe sagen würde. Er war gespannt, und er hatte Angst, Angst vor dem, was nun käme, und Angst, durch eine Bewegung oder ein Geräusch ihre wahren Gefühle zu verscheuchen.
Aber sie sagte nichts. Margaret starrte ins Leere, wie eine vorsichtige New Yorkerin, die in der U-Bahn so tut, als wären ihre Mitpassagiere gar nicht da. Ihr statuenhaftes Schweigen versetzte Enrique in Panik. Goldfarb hingegen hatte alle Geduld der Welt. Er lehnte sich in seinem weich gepolsterten Stuhl zurück, offenbar auf eine lange Geschichte gefasst, und fragte Margaret etwas, was der junge Enrique seine Frau noch nie gefragt hatte: »Was denken Sie über Ihre Ehe, Margaret?«
16 LETZTE WORTE
U m fünf Uhr nachmittags am dritten Tag nach Absetzung der Steroide und der intravenösen Flüssigkeitszufuhr brachte Enrique die letzte von Margarets Freundinnen nach oben. Diane, aus Margarets Krebsgruppe, war zwar keine Freundin im engeren Sinn, aber Margaret fand, dass sie einer Kampfgefährtin nicht die Chance verweigern konnte, dem, was ihr vielleicht bald selbst bevorstand, mutig ins Auge zu blicken. Enrique ging gleich wieder hinunter ins Wohnzimmer, weil er sich, nachdem er Margarets und Dorothys Gespräch belauscht hatte, fest vorgenommen hatte, den intimen Charakter dieser Abschiedsbesuche zu respektieren. Sie hatte jetzt noch höchstens fünf Tage zu leben. Ihre Familie, ihre engsten Freundinnen und Freunde und ihre Söhne hatten sich bereits von ihr verabschiedet. Heute würde der erste Abend sein, den sie für sich allein hätten, seit sie Enrique erklärt hatte, sie wolle sterben – so schnell, wie es auf legale Weise möglich war. Sie war merklich schwächer und schläfriger als am Vortag, bald würde sie ins Koma fallen. Er setzte sich aufs Sofa, um darauf warten, dass Diane in einer halben Stunde ging und er endlich an der Reihe war.
Die ganze letzte Woche hatte er getan, worum sie ihn gebeten hatte: ihr geholfen, die schmerzlichen Abschiedsbesuche von Familienmitgliedern und Freunden durchzustehen. Bisauf einen kurzen Ausrutscher hatte er Margaret nicht in die Situation gebracht, ihn trösten zu müssen. Er hoffte, dass er es schaffen würde, sie nicht mit seiner Sorge zu belasten, wie schrecklich ein Leben ohne sie sein würde. Und er hoffte, dass er nichts sagen würde, was ihr wehtäte, obwohl er sich nicht sicher war, ob ein befriedigender Abschied zwischen ihnen überhaupt möglich war, ohne dass sie beide dieses Risiko eingingen. Was auch immer sie einander sagen würden, es wäre das Ende eines Gesprächs, das begonnen hatte, als er einundzwanzig gewesen war, und sich bis jetzt, da er fünfzig war, fortgesetzt hatte. Er wollte unbedingt das Mysterium ergründen, wie sie es geschafft hatten, ein ganzes Leben miteinander zu verbringen, wo sie doch von ihrem Wesen her so verschieden waren und so unterschiedliche Erwartungen aneinander hatten. Und wenn sich in einem letzten Gespräch mit seiner Frau darauf keine Antwort finden ließ, wollte er ihr wenigstens sagen, was sie ihm bedeutet hatte, und hören, was er ihr bedeutet hatte, denn bald würde da nur noch ein einsamer Monolog sein.
Vieles, was ihm im Hinblick auf diese letzten Tage Angst gemacht hatte, war geschafft. Gregory und Max hatten von ihrer Mutter Abschied genommen. Diese Verabschiedungen hätten nicht unterschiedlicher sein können, das entsprach aber genau ihrer jeweiligen Beziehung zu Margaret und der unterschiedlichen Art, wie sie die Krankheit ihrer Mutter erlebt hatten. Bei Margarets Krebsdiagnose war Gregory zwanzig und auf dem College gewesen. Nach seinem Abschluss ein Jahr später, als sie in Remission gewesen war, hatte er einen Job bei einer linksliberalen Zeitschrift in Washington angenommen. Binnen Monaten hatte er sich als Jungstar des politischen Journalismus etabliert, insbesondere als Blogger, was wiederum Radio- und Fernsehauftritte nach sich gezogen hatte, so dass die stolzen Eltern seinen frühen Erfolg vom Krankenhauszimmer aus hattenverfolgen können. Da Gregory anreisen musste, um Margaret zu sehen, waren seine Audienzen bei ihr fast alle im Voraus anberaumt worden.
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