Glückliche Ehe
als er noch ein warmes muffinartiges Baby gewesen war, aber inzwischen hatte er wirklich etwas von einem Bären: so massig, sanft und bedächtig. Und brüllen konnte er auch, das hatte er als Journalist bewiesen. Doch jetzt drückte Gregory linkisch den Kopf gegen Enriques Brust, als wollte er hineinkriechen. Er schloss die starken Arme um Enriques Rücken, weniger, um ihn zu umarmen, als um sich festzuhalten.
In dieser Stellung konnte Enrique weder das Gesicht seines Sohnes sehen noch ihm den Rücken tätscheln. Er konnte ihn nur auf den Kopf küssen, wie er es früher getan hatte, wenn er ihn als Baby in seinem Seersucker-Snugli herumgetragen hatte. Er küsste ihn zweimal und flüsterte: »Alles in Ordnung?«, obwohl klar war, dass nichts an alldem in Ordnung war oder jemals in Ordnung sein würde. Er hatte diese absurde Frage so oft gestellt, dass er in einer schlaflosen Nacht darüber nachgedacht hatte, warum er seine Kinder so unmögliche Dinge fragte. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er trotz aller Gegenbeweise glaubte, dass es ihm doch möglich sein musste, die Dinge in Ordnung zu bringen. Enrique verachtete sich für diesen Größenwahn.Welch hoffnungslose Eitelkeit brachte ihn auf die Idee, er könnte ihnen den Schmerz über den Tod ihrer Mutter nehmen? Er war verblüffend irrelevant. Er stolperte draußen herum und suchte den Schlüssel, der ihm Zugang zum Raum der Trauer seiner Söhne verschaffen würde. Ihr Vater hätte doch eigentlich der Mensch sein sollen, der sie am ehesten trösten konnte, aber Enrique spürte, dass ihre Freunde ihnen eine größere Hilfe waren, ebenso wie der Alkohol sicherlich half, und sie – hoffte und betete Enrique – Trost in den Armen zärtlicher junger Frauen finden würden. Sobald er sich ihnen zuwandte, schien es ihnen nur noch schlechter zu gehen. Er hatte ihnen immer wieder versichert, dass sie großartig mit der Krankheit ihrer Mutter umgingen, dass Margaret und er sehr stolz auf sie seien. Obgleich das die reine Wahrheit war, klang jedes Wort hohl und falsch. Enrique hatte sich schon oft in seinem Leben dumm, idiotisch, unfähig und plump gefühlt, aber noch nie so durch und durch unnütz.
Mit halberstickter Stimme murmelte Gregory irgendetwas.
»Was?«, flüsterte Enrique seinem Sohn ins Ohr. Greg hob abrupt den Kopf und traf seinen Vater so fest am Kinn, dass der einen Schritt zurücktaumelte.
»Entschuldigung«, sagte Greg, streckte die Hand aus und massierte Enriques Schulter.
»Nichts passiert.« Enrique lachte über ihrer beider Unbeholfenheit, ehe er wieder fragte: »Was hast du gesagt? Ich hab’s nicht verstanden.«
Mit zitterndem Kinn schüttelte Greg den Kopf. Enrique legte den Arm um seinen Sohn und stellte sich so hin, dass sie Schulter an Schulter lehnten, sich gegenseitig stützten. »Sag’s mir«, beschwor er ihn.
»Es ist so traurig«, flüsterte Gregory, ehe es ihm die Kehle zuschnürte und er die bebrillten blauen Augen schließen musste, um die Tränen zurückzuhalten. Enrique murmelte:»Ja«, und hatte nicht mehr zu sagen. Gegen diesen Schmerz war Gregory machtlos. Enrique schloss ihn in die Arme. Er wollte ihm die Trauer nehmen. Ihm war jetzt klar, dass es das war, was ein Vater können sollte: das Unglück seines Sohns auf sich nehmen. Schließlich hatten er und Margaret Gregorys Unglück ja erzeugt. Sein Schmerz gehörte ihnen. Während Gregory in seinen Armen zitterte, dachte Enrique, dass er seinem Sohn das Leid nehmen müsste, indem er ihn liebte.
Als Gregory einen Spaziergang machen ging, stieg Enrique die Treppe hinauf, in der Erwartung, seine Frau weinend vorzufinden. Margaret saß im Bett, die Perücke neben sich auf der Decke. Sie blickte durch die Fensterfront in den blauen Junihimmel über Südmanhattan und wirkte ganz zufrieden. Ihre Augen glänzten zwar feucht, aber das war derzeit immer so, wahrscheinlich Chemo-Tränen. »Wie war’s?«, fragte er.
Sie wandte sich Enrique zu, die Miene halb wehmütig, halb zufrieden. »Er hat sich von mir bemuttern lassen«, gestand sie, als beichtete sie ein unerlaubtes Vergnügen. »Ich durfte ihm einen Hemdknopf annähen und ihm sagen, dass er sich die Haare schneiden lassen soll, und mich überhaupt wie eine nervige Mom benehmen, ohne dass er protestiert hat. Er war so lieb.« Tränen rannen ihr über die Wangen, aber ihre Stimme war ganz ruhig.
Enrique schlüpfte, vorsichtig wegen der verschiedenen medizinischen Anhängsel, neben ihr ins Bett und schmiegte sich in ihre Arme.
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