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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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ihn anscheinend wiedersehen wollte.
    »Hast du Lust auf einen Brunch mit mir und drei anderen Frauen?«
    »Klar«, sagte er. Er hätte auch »klar« gesagt, wenn sie einen Brunch mit der Gestapo vorgeschlagen hätte.
    »Keine Männer«, fügte sie hinzu. »Nur du und die Mädels. Glaubst du, du kommst damit klar?«
    »Die Quote gefällt mir«, erklärte er und wollte sie wieder küssen.
    Mit beiden Händen drückte sie ihn weg. »Geh jetzt. Wir müssen uns beide ausruhen.«
    Er war wieder draußen auf der Straße, in der Ninth Street, einer Oase inmitten der Wüste des bankrotten New York. Er stapfte dahin, vorbei an den Obdachlosen, den Junkies und dem einen oder anderen arbeitenden Menschen, der zu arm war oder in der Hierarchie zu weit unten stand, um den Feiertag frei zu bekommen.
    Sein nagelneues Apartment wirkte winzig und steril. Beim Anblick seiner Selectric-Schreibmaschine auf dem Eichenholzschreibtisch fühlte er sich wie eine Schreibkraft, nicht wie ein Schriftsteller. Er war so erschöpft, dass er sich auszog, auf sein schmales Bett fiel und einzuschlafen versuchte. Es ging nicht. Er bekam das Bild der nackten Margaret nicht aus dem Kopf, wie sie sich beeilte, zu ihm ins Bett zu schlüpfen. Er masturbierte, mehr als Exorzismus als aus irgendeinem anderen Grund, und war sauer, weil sein Schwanz anstandslos funktionierte, solange niemand dabei war, den es zu beeindrucken galt. Er duschte, rasierte sich und zog eine schwarze Jeans und ein blaues Arbeitshemd an, machte sich dann Kaffee und wartete trübsinnig, dass es Zeit wäre, zu der Silvesterparty bei einem Freund von Sal zu gehen, wo es angeblich Frauen geben würde, die für ihn in Frage kämen. Er sah keinen Sinn darin, eine andere kennenzulernen. Er hatte die Frau seiner Träume gefunden, und im wirklichen Leben konnte er nicht mit ihr schlafen.

20 TRAUER
    E nrique hatte noch nie einen Toten betrachtet. Keinen jedenfalls, der eben erst gestorben war. Als seine Großmutter gestorben war, hatte er nur einen flüchtigen Blick auf ihren einbalsamierten Leichnam geworfen und gleich wieder weggeguckt, schockiert über diese marmorglatte Version des neunundachtzigjährigen Gesichts: die Lippen geschlossen, die Augen wie heruntergelassene Eisentore. Diese Bestatterskulptur der Mutter seines Vaters, seiner Bilderbuch- abuela , hatte keine Spur mehr des versiegenden Menschseins, der eben entflohenen Seele gezeigt.
    Dieser Leichnam hier in einem Zimmer des Beth-Israel-Krankenhauses, diese reglosen eins fünfundachtzig mit hohlen Wagen und herabgesunkenem Unterkiefer – dieses Fleisch seines Vaters hatte, obwohl sich die Stirn kühl anfühlte, als er sie küsste, noch immer die Temperatur des Lebens. Und die Falten in Guillermos Gesicht, die schlaffe Haut am Hals, die leicht geöffneten Lippen wirkten nicht völlig entseelt. Enriques Vater war nicht da, aber er war auch nicht verschwunden.
    Enrique flüsterte, für den Fall, dass die Schwester im Schwesternzimmer mithören konnte: »Tut mir leid, Dad. Tut mir leid, dass ich nicht da war.« Mehr konnte er nicht sagen, weil es so schrecklich war, dass keine Antwortkommen würde. Sein Leben lang hatte Enrique die Frage beschäftigt wie keine andere – ein Umstand, der ihn wiederum wütend machte wie kein anderer –, was sein Vater von ihm hielt: von seiner Art zu reden, seinem Aussehen, seinen Träumen, seinen Texten. Nichts an ihm war der Beurteilung durch seinen Vater entgangen. Keine seiner Gewohnheiten, seiner Vorlieben oder Abneigungen, seiner Ambitionen hatte sich ausgebildet, ohne die Missbilligung seines Vaters überlebt oder dessen Billigung gefunden zu haben. Er hatte seinen Kompass verloren.
    Es war 3 Uhr 16 morgens. Mal wieder fiel ihm etwas ein, was sein Vater immer sagte. »In der dunklen Nacht der Seele«, hatte Guillermo gern Fitzgerald zitiert, »ist es immer drei Uhr morgens.« Und Enrique musste daran denken, dass sein Vater Fitzgerald für überschätzt gehalten hatte, und fragte sich, ob das Neid gewesen war oder ein ästhetisches Urteil oder beides – und dann war er wieder im Jetzt, stand am Fuß des Krankenhausbetts und starrte auf die grauen Lippen seines toten Vaters.
    Der Anruf aus dem Beth Israel hatte Enrique um 2 Uhr 37 aus dem Tiefschlaf geschreckt. »Es tut mir leid, Ihr Vater ist gestorben«, sagte die Schwester und setzte hinzu, dass der Tote in zwei Stunden in den Leichenkeller gebracht werden müsse. Wenn er noch etwas Zeit mit seinem Vater haben wolle, müsse er jetzt gleich

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