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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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»Du bist so stark, Enrique«, hatte sie gesagt. »Ich will in Frieden zu Hause sterben. Du kannst mir dabei helfen.« Er konnte ihren Wunsch nicht missachten. Das Antibiotikum würde ihr Leben nicht verlängern, aber die Flüssigkeit ganz sicher. Über die Jahre hatte er gelernt, gegen ihre autokratische Art zu protestieren, und manchmal hatte sie ihn netterweise glauben lassen, er könne sich durchsetzen. Aber obwohl sie bewusstlos im Sterben lag und sich nicht mehr wehren konnte, war es so gut wie unmöglich, sich ihr zu widersetzen. »Okay,bist du bereit?«, fragte Enrique Rebecca und strich das Zäpfchen mit Gleitmittel ein.
    Seine Schwester hob die Decken am Fußende an. Margarets Füße zogen sich zurück, aber nur ein paar Zentimeter. Er spreizte mit einer Hand ihre Pobacken und führte das Zäpfchen mit dem rechten Zeigefinger ein. »Ich habe mich schon lange daran gewöhnt, als Patientin keine Würde mehr zu haben«, hatte Margaret erklärt, als Dr. Ko die fiebersenkenden Zäpfchen vorgeschlagen hatte, um zu verhindern, dass das Mittel aus Margarets Magen gleich wieder abliefe. Sie zuckte stöhnend zusammen, aber Enrique war schon wieder draußen und die Decke binnen einer Sekunde wieder an Ort und Stelle. Sie beruhigte sich sofort und bewegte sich nicht mehr. Er beugte sich hinab und küsste die harte Ausbeulung der Decke, wo sich ihr Kopf versteckte. Hoffentlich geht es dir bald besser, Liebste, dachte er und sah auf den Wecker. In drei Stunden wäre es neun Uhr. Vielleicht würde sie dann ja nicht mehr delirieren. Das nächste Mal würde er nicht zögern. Meine Frau stirbt, hielt er sich vor. Deine Frau stirbt, tadelte er sich. Sag, was du zu sagen hast, oder sie wird es nie hören.
    *
    Enrique erwachte in Margarets Bett. Fast wäre er erschrocken hochgefahren. Ihre großen Augen waren geöffnet und fixierten ihn. Sie waren nur Zentimeter von ihm entfernt und füllten sein Gesichtsfeld aus. Er wich zurück und stieß mit dem Schädel gegen die Wand. »Autsch«, sagte sie mitfühlend. Aber er bemerkte etwas Erschreckendes in ihren Augen – die Abwesenheit von Zärtlichkeit, einen kühlen, taxierenden Blick.
    Sofort war er hellwach und hatte kapiert. Natürlich. Sie verachtete ihn, weil er versagt hatte. Sein jämmerlichesVersagen hatte sie angewidert. Er war eingeschlafen wie ein Lämmchen, wie ein romantischer Trottel, der glaubte, ihre Liebe unversehrt zu finden, wenn er aufwachte; stattdessen leuchteten die Sonnenstreifen, die durch die Jalousie von Margarets Studio-Apartment fielen, das Gemetzel der Nacht aus: Enrique und sein unfähiger Schwanz hatten sie rettungslos enttäuscht.
    Was würde sie sagen? Die Wahrheit? Hau ab, du Schlappschwanz! Oder eine höfliche Lüge: Ich muss zu meiner Silvesterparty, wir telefonieren nach Neujahr. Und wenn er dann anriefe, wäre sie für den Rest des Jahrhunderts ausgebucht.
    Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Er spürte einen verzweifelten Impuls: Küss sie, bring sie zum Schweigen und nimm sie, nimm sie schnell und fick sie, und deine erbärmliche Vorstellung ist vergessen. Aber er regte sich nicht. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er tun sollte. Er wartete, fürchtete sich vor ihren Worten. Schließlich brach sie das Schweigen:»Ich mache Kaffee. Willst du auch welchen?«
    War das ihre Art zu sagen, dass er keinen weiteren Versuch hatte? Oder wollte sie ihm signalisieren, er könne gerne noch bleiben und mit ihr frühstücken – es sei ja noch alle Zeit der Welt, ihr zu beweisen, dass er Manns genug für sie war? Oder wollte sie ihn aus ihrem Bett und dann aus ihrem Leben bugsieren? Aber vielleicht wollte sie ihm ja auch mitteilen, dass sie Lust auf einen Kaffee hatte.
    »Klar«, sagte er und widersprach sich selbst, indem er ihr einen Arm über die Schulter schlang, näher an sie heranrückte und sich zu ihren Lippen herabbeugte. Sie wartete ab, wehrte sich weder, noch bot sie sich an. Er küsste sie ganz vorsichtig, als liebkoste er einen Hai und nicht eine Frau, neben der er die ganze Nacht gelegen hatte.
    Ihre Lippen waren aufgesprungen und trocken vom New Yorker Winter und der Heizungsluft in ihrer Wohnung.Genau wie seine. Sie schmeckten beide nach Zigaretten und Kaffee. Der Radiowecker neben ihrem Bett zeigte halb zwölf an. Sie hatten keine vier Stunden geschlafen. Kein Wunder, dass ihre Zungen pelzig waren und sein ganzer Körper schmerzte – und zwar nicht von Verlangen. Weitere Erkundungen waren unter diesen Umständen zwecklos. Er

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