Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
Vom Netzwerk:
gut. Deinen Enkeln geht es gut. Du kannst gehen. Es ist okay, wenn du jetzt gehst.« Er hatte sich an die Ratschläge einer Hospizbroschüre gehalten, was man sterbenden Patienten im Koma sagen sollte. Dabei hatte er keine Sekunde geglaubt, dass diese Empfehlungen dem Wohl des Patienten dienten. Noch während er die Worte aussprach, hatte er tief in seinem Herzen gespürt, wie sie ihn selbst trösteten. Sie ließen ihn glauben, dass er bereit war, seinen Vater gehen zu lassen.
    Warum nicht?, hatte er gedacht, als er zu Fuß nach Hause gegangen war, um mit Margaret und seinen Söhnen zu Abend zu essen, nur Stunden, wie er jetzt wusste, bevor sein Vater den letzten Atemzug tun würde. Für Dad war es Zeit zu gehen. Er hatte ein erfolgreiches Leben hinter sich, hatte Chaos gestiftet und reichlich anregende Ideen gehabt. Er hatte den Namen Sabas hinausgetragen aus der Enge und Armut seiner vaterlosen Kindheit bei den Zigarrenmachern von Tampa. Ich bin zweiundvierzig, hatte Enrique gedacht, ich bin glücklich verheiratet und habe zwei Söhne, ich habe acht Romane veröffentlicht und drei Filmdrehbücher geschrieben. Ich bin bereit, meinen Vater gehen zu lassen.
    Tapfere Gedanken, aber vor der Realität des Todes ging Enrique am Fuß des Krankenhausbetts in die Knie. Er schämte sich, weil er seinen Vater dem Hospizpersonal ausgeliefert hatte, weil er nach Hause gegangen war, zu seiner fröhlichen Margaret und seinen energiegeladenen Söhnen, und seinen Vater allein unter Fremden hatte sterben lassen. Ich war nicht der perfekte Latino-Sohn, dachte er. Zum dritten Mal versuchte er, sich bei einem Leichnam zu entschuldigen. »Tut mir leid, dass ich nicht da war, Dad.« Da kam nichts zurück, kein Sarkasmus, kein Verzeihen, kein Zorn, keine Bitterkeit und keine Liebe, gar nichts kam von dieser reglosen Masse, die sein Vater nun war, und dieEntschuldigung war vergeblich. Er hatte im allerletzten Moment versagt, nachdem er sich ein Leben lang bemüht hatte, gerechter mit seinem Vater zu sein, als sein Vater zu ihm gewesen war; er hatte sich verdrückt, hatte zu viel Angst vor dem Tod gehabt, um sich dem letzten Anblick des Lebens zu stellen.
    Er verbrachte noch zehn befangene Minuten bei Guillermos Leichnam, wie ein schüchterner Mann auf einer Cocktailparty mit fremden Leuten. Da ihm keine Abschiedsworte einfielen, küsste er die kalte Stirn dessen, was sein Vater gewesen war, sagte der leeren Hülle, dass er sie liebte, und ging nach Hause, durch dieselben Straßen, durch die er nach der Geburt seiner Söhne im Beth Israel gegangen war, dieselben Straßen, durch die er fünf Jahre später gehen sollte, in der Nacht, in der Margarets Krebs diagnostiziert wurde und er sich beeilen musste, nach Hause zu kommen, um dann so zu tun, als wäre alles in Ordnung, während er Max für die Schule weckte. In diesem ersten Dämmerlicht, auf dem Rückweg vom Tod seines Vaters zum Leben seiner Frau und seiner Kinder, hatte er eine verschwommene Vision, sah die schwachen Umrisse der schwebenden Brücke zwischen Geburt und Tod und Tod und Geburt, die die Menschen überquerten, in dem Glauben, dass die Straße sie in ein neues Land führte.
    Das Telefon klingelte den ganzen Tag. Margaret übernahm wie schon während Guillermos Krankheit die meisten Dinge, die getan werden mussten. Sie und Rebecca gingen zum Bestattungsinstitut und veranlassten alles Nötige. Margaret nahm auch die meisten Anrufe entgegen. Enrique hörte ihren bedauernden, liebevollen Ton. »Armer Guillermo«, sagte sie, »er hat ja so gelitten. Es war schwer, mit anzusehen, welche Schmerzen er hatte. Er war doch so ein enthusiastischer Mensch, der das Leben genoss und noch eine schöne Zeit haben wollte. Für ihn ist es besser, dass er’s hinter sich hat.« Sie hatte das ganze Chaos seines Vaters in diesenhandlichen Sätzen organisiert, ein ordentliches, hübsches Paket aus den verrückten Dingen geschnürt, die sein Vater im Alter getan hatte – sich nach vierzig Ehejahren von Enriques Mutter scheiden zu lassen, stur allein zu leben, obwohl viele Frauen sich gern um ihn gekümmert hätten, um in den Genuss zu kommen, tagtäglich der dröhnenden Musik seiner Persönlichkeit zu lauschen.
    Er war in eine Einzimmerwohnung zwei Blocks von Enrique entfernt gezogen und gehörte bald, wohl oder übel, zum Alltag. Die letzten fünf Jahre hatte Enrique einmal die Woche mit seinem Vater zu Mittag gegessen, und an einem weiteren Tag hatte Guillermo abends die Jungen gehütet, worauf

Weitere Kostenlose Bücher