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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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kommen. Enrique rief seine Halbgeschwister an, um ihnen die Nachricht mitzuteilen, und Margaret hielt ihn in ihrem Ehebett in den Armen und küsste ihn, während er auf die beiden Lichtkästen der Twin Towers in der Mitte ihres Schlafzimmerfensters schaute, geschockt, weil der Tod seines Vaters, von dessen Unausweichlichkeit er seit einem Jahr gewusst hatte, tatsächlich eingetreten war. Er wollte seinen toten Vater nicht sehen, fühlte sich aber genötigt hinzugehen. War das nur Konvention? Oder gab es am Tod etwas zu sehen?
    Er zog sich schnell an, und Margaret brachte ihn nach unten. Der elfjährige Max kam aus seinem Zimmer und fragte, ob etwas mit Grandpa sei. Er und sein älterer Bruder hatten ein sehr enges Verhältnis zu Guillermo. Ihr Großvater hatte mindestens einmal die Woche auf sie aufgepasst, sie schamlos verwöhnt und sie mit seinen emphatischen Reden, seinen hochfliegenden Träumen und seinem sprühenden Geist unterhalten. Max schlang die kleinen Arme um seinen Daddy und drückte ihn fest. Enrique fragte: »Hat dich das Telefon geweckt?«
    Max sagte: »Ich weiß es immer, wenn in der Familie irgendwas passiert.« Und mit dem ganzen erwachsenenhaften Ernst eines vorpubertären Kindes setzte er hinzu: »Grandpa hatte dich lieb, Daddy.«
    Margaret lächelte Enrique traurig und Max stolz an, nahm dann ihren jüngeren Sohn an der Hand und brachte ihn wieder ins Bett. An diese Szene – seine Frau und sein Sohn, die sicher und geborgen zu Hause auf seine Rückkehr warteten – dachte Enrique, während er auf Guillermos Leichnam starrte, der auf dem Rücken lag, die behaarten Hände auf der Brust gekreuzt, das Gesicht nicht, als schliefe er nur, weil Schlaf voller Leben war, sondern vollkommen reglos. Und er war stumm. Stummer noch als in jenen Monaten zornig ausgetragener Pubertätskämpfe, als sie in Zimmern gewohnt hatten, die nur drei Meter auseinanderlagen, und sein Vater sich geweigert hatte, mit ihm zu reden.
    Er wollte Guillermo erzählen, wie Max den Anruf der Hospizabteilung gehört und sich als Hüter der Familie aufgespielt hatte. »Du hast die Rolle des Latino-Sohns perfekt erfüllt«, hatte ihm sein Vater vor drei Monaten erklärt, als das Morphium nicht mehr gegen den ständigen Schmerz des auf seine Knochen übergreifenden Prostatakrebses ankam und sie in ihren Gesprächen langsam zu dem Schluss kamen, dass der letzte Akt des Dramas erreicht war. »Das weißt dudoch, oder? Du hast alles getan, was ein Latino-Vater von einem Sohn nur erwarten kann.« Die Enkelsöhne, die ihm Enrique geschenkt hatte, waren Teil dieser Pflichterfüllung, und Enrique hatte in den Augen seines Vaters auch die richtige Mutter für sie ausgesucht. Margaret erzog und beschützte ihre Söhne entschieden und liebevoll, mit jenem unfehlbaren Gefühl für Richtig und Falsch, das Guillermo schätzte. »Deine Enkelsöhne werden tolle Männer werden«, hatte Enrique geantwortet, als Guillermo bedauert hatte, dass er sie nicht als reife Erwachsene erleben würde. »Oh, das weiß ich«, hatte sein Vater erklärt. »Um die Zukunft meiner Enkel mache ich mir keine Sorgen. Margaret wird dafür sorgen, dass sie die Welt erobern.« Er lachte. »Sonst Gnade ihnen Gott.«
    »Tut mir leid«, sagte Enrique zu dem Leichnam, der zweite Versuch einer Entschuldigung. »Tut mir leid, dass ich nicht …« Diesmal brachte er den Satz nicht zu Ende. Während der letzten drei Tage und Nächte, als Guillermo im Koma gelegen hatte, hatte Enrique es nicht geschafft, die ganze Zeit bei ihm zu wachen. Am ersten Tag war er nach drei Stunden gegangen. Am zweiten war er auf die Sekunde genau zwei Stunden geblieben. Am dritten Tag – gestern – hatte er sich, bevor er gegangen war, übers Bett gebeugt, die runzlige Stirn seines Vaters geküsst und eine Weile dem Atem gelauscht, der, wie man ihm erklärt hatte, so eilig ging wegen des Aszites, weil sich kanzeröse Flüssigkeit in Guillermos Bauchhöhle sammelte und auf seine Lungen drückte. Schließlich hatte er seinem Vater ins linke Ohr geflüstert: »Ist okay, Dad. Du kannst jetzt gehen. Es ist alles geregelt.« Er hatte die Fragen angesprochen, die seinen Vater zuletzt noch beschäftigt hatten, ihm gesagt, dass der Deal mit einem Universitätsverlag, der Guillermos sämtliche Romane neu auflegen sollte, unter Dach und Fach war, dass er, Enrique, sich um seine Halbschwester Rebecca und deren Kinderkümmern würde, und schließlich erklärt: »Bei mir läuft alles bestens, Dad. Margaret geht es

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