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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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natürlich das Letzte, was er wollte.
    »Ach herrje, ich bin spät dran. Ich muss los. Gibst du mir deine Telefonnummer?« Ihm schwante schon nichts Gutes, als er ihr die Nummer nannte, und prompt folgte die katastrophale Ansage: »Ich ruf dich an, sobald ich mit der Planung für mein Waisendinner so weit bin. Bis dann!«
    Und so war er wieder allein mit dem schwarzen Telefonhörer, gefangen in seinem engen Studio-Apartment mit dem schmalen Doppelbett, und harrte eines Anrufs, der bestimmt nie kommen würde.

4 ANHEDONIE
    E r brachte sie ein letztes Mal vom Sloan-Kettering-Krankenhaus nach Hause. Wenig feierlich, wenn man bedachte, wie bedeutungsschwer diese Reise war. Nach fast drei Jahren Behandlung war es, als hätten sie Familienangehörige hinzugewonnen, inklusive der unvermeidlichen Verwandten, mit denen man nicht mehr spricht. Von den Ärzten, mit denen sie noch auf gutem Fuße standen, kamen drei vorbei, um sich zu verabschieden, und einer, um zu streiten.
    Der despotische irakische Jude war der Erste, der auftauchte, keine Stunde nachdem Enrique sein Dienstzimmer davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass Margaret sämtliche Behandlungsmaßnahmen abbreche, sich für ein Hospizprogramm entschieden habe und zu Hause sterben wolle. Allein und ohne Vorankündigung erschien der stolze, kleine Facharzt in Margarets Zimmer. Das war noch nie vorgekommen. Sonst war ihm eine Vorhut Untergebener vorausgeeilt. Und wenn er schließlich aufgetaucht war, dann mit einem ganzen Gefolge bestehend aus Assistent, Famulant, Fachkrankenschwester und zwei Medizinstudenten, die wahrscheinlich so alt waren wie Gregory, Margarets und Enriques älterer Sohn, gerade mal dreiundzwanzig. Dieser Soloauftritt kündigte ein neues Kapitel ihrer Beziehung an, das mit dieser Begegnung allerdings auch schon wieder endete.
    Er stand mit strenger Miene am Fußende des Betts, die manikürten Hände neben dem Körper. Margaret blickte zu ihm auf wie ein misstrauisches Tier. Enrique kam er vor wie ein Dirigent in der Carnegie Hall, der ein riesiges Orchester mit nichts als der Kraft seiner Persönlichkeit zu kontrollieren versuchte. Er begann mit einem Zugeständnis: einer angewiderten Handbewegung in Richtung der Fütterungsmaschine, die vom Misserfolg der vorangegangenen Nacht zeugte. »Damit ist Schluss«, sagte er.
    Dann bestand er darauf, dass sie wieder per Infusions-PE ernährt werde. Diese Debatte hatte er schon vor einem Monat verloren. Margaret hatte den Chef der Onkologie und den Psychiater des Sloan-Krankenhauses davon überzeugt, dass das Leben so nicht lebenswert sei. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sie der PE jetzt wieder zustimmen würde. Trotzdem nahm er den aussichtslosen Kampf auf. Der gutaussehende, herrische und – wie Enrique jetzt erkannte – weichherzige Mann argumentierte mit Inbrunst gegen alle bereits gefallenen Entscheidungen an. Er legte seine gockelhafte Arroganz ab und beschwor sie regelrecht. »Es gibt immer wieder neue Medikamente«, sagte er. »Sie wissen nicht, wie lange man mit der PE auskommt. Ich habe Patienten, die seit Jahren mit metastasiertem Krebs leben, der schlimmer ist als Ihrer. Die Scans zeigen, dass Ihre Tumore nicht wachsen. Wir können für Sie eine Arzneimittelstudie finden …«
    Enrique wusste, dass dieses Argument Unsinn war. Margaret hatte keinen Tumor. Ihre Blase und der große invasive Tumor darin waren vor zwei Jahren entfernt worden. Ihre Metastasenbildung, die vor einem Jahr zufällig während eines Eingriffs zur Beseitigung eines Darmverschlusses entdeckt worden war, hatte die Form von kleinen Läsionen auf der Außenseite ihres Darms, zu klein, um bei der Computertomographie sichtbar zu sein. Was beobachtet werdenkonnte, war eine Flüssigkeitsansammlung in ihrer Bauchhöhle, ein sogenannter Aszites, ein Anzeichen für die todbringende Vitalität ihres Krebses. Im Januar hatte sie noch essen und trinken können, dann war das Essen unmöglich geworden und schließlich auch das Trinken, ein Beweis dafür, dass ihr Krebs rasch voranschritt. Obwohl sie untätig im Bett lag und die PE sie mit zweitausendvierhundert Kalorien am Tag vollpumpte, verlor sie weiterhin an Gewicht und hatte keine Energie mehr. Sie hatte in den letzten zwei Monaten drei schwere Infektionen gehabt und vor zwei Wochen eine Gelbsucht bekommen. Margaret hatte bei den Freunden und Freundinnen beobachtet, die sie in der Selbsthilfegruppe für Patienten mit Krebs im fortgeschrittenen Stadium gefunden und verloren
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