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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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hatte, dass es bei metastasiertem Krebs einen Punkt zu geben schien, ab dem es rapide abwärtsging. Alles deutete darauf hin, dass sie jetzt im freien Fall war. Und dennoch. Dennoch verfing bei Enrique die irrationale Beschwörung der Idee, an die Margaret nicht mehr glaubte: die Idee, dass es sich lohne weiterzukämpfen. Er blieb äußerlich ruhig, aber er empfand Scham und Zweifel, als er den Iraker reden hörte.
    Im September hatte Enrique Margaret darin unterstützt, alles zu tun, um vielleicht doch irgendein Wundermittel zu finden. Obwohl sie müde und anfällig für Infektionen und Darmverschlüsse gewesen war, hatte sie damals noch Leute treffen, reisen, lachen können. Außerdem hatten die verzweifelten Experimente allen, die sie kannten, insbesondere ihren Söhnen, ihren Eltern und ihren Geschwistern, das Gefühl geben, dass nichts versäumt worden war, um ihr Leben zu retten.
    Aber Enrique fand, dass diese Phase ihnen Zeit für ihren Abschied genommen hatte. Solange Margaret noch gegen ihre Krankheit ankämpfte, hatte Enrique nie von ihrem möglichen Tod gesprochen – nie das Thema angeschnitten, wiesie sich für ihn und ihre Kinder eine Zukunft ohne sie vorstellte und erhoffte. Obwohl Margaret ihn in jeder wachen Minute bei sich hatte haben wollen und er auch während ihres Schlafs in ihrer Nähe geblieben war, hatten sich ihre Gespräche auf die praktischen Dinge des Jetzt beschränkt. Über das Ende hatten sie nicht gesprochen.
    Seit September war es ein schwieriger, hässlicher Kampf gewesen. Sie hatten einen erbitterten Streit mit dem urologischen Onkologen gehabt (dem Familienmitglied, mit dem sie nicht mehr sprachen), weil Margaret sich weigerte, an einer Arzneimittelstudie teilzunehmen, zu der er ihr riet. Er hatte sich gerächt, indem er dem immensen Druck ihres Freundes, des Chefs der Onkologie, trotzte und sich eisern weigerte, es stattdessen mit noch nicht zugelassenen Medikamenten zu versuchen. Sie hatten einen neuen Facharzt außerhalb des Sloan Kettering finden müssen, der gewillt war, ihr nicht zugelassene Medikamente zu geben. Margaret hatte zwei experimentelle Chemotherapien ertragen, die nichts nützten, aber ihr Befinden verschlechterten. Diesmal war es keine Kapitulation, dass sie die Einstellung der Behandlungsmaßnahmen wollte: Sie akzeptierte schlicht die Tatsachen. Und doch wollte Enrique den irrationalen Klischees, mit denen der Arzt versuchte ihnen Hoffnung zu machen, so gern glauben.
    Margaret beantwortete diese beschwörende Argumentation mit äußerster Verzweiflung. Tränenüberströmt rollte sie sich zur Embryonalhaltung zusammen. Sie zuckte unter seinen optimistischen Worten zusammen, als wären es Peitschenhiebe. Mit bebender Stimme flehte sie: »Ich kann das nicht, ich kann’s nicht, ich kann nicht mehr. Ich kann nicht wieder mit der PE anfangen. Ich halte den Geruch nicht aus. Ich rieche die ganze Zeit nach saurer Milch. Ich kann es nicht ertragen, einfach nur hier zu liegen, das Zeug den ganzen Tag und die ganze Nacht in mich hineintropfen zulassen und darauf zu warten, dass ich sterbe. Bitte, bitte lassen Sie mich gehen …« Ihr ganzer Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Enrique kämpfte sich durch das Gitter des Krankenhausbettes und die Infusionsschläuche, um sie in die Arme zu nehmen. Während er seine Lippen in die Höhlung ihrer fast durchscheinenden Wange presste, sah er, wie der Iraker unsicher an seinem Dirigentenpult schwankte. Enrique erinnerte sich an jenes erste Mal, dass Margaret den selbstsicheren Doktor von seinem Podest gestoßen hatte.
    Sie hatten ihn erst vor vier Monaten kennengelernt, als Margaret kleinlaut wieder auf die Dienste des Sloan hatte zurückgreifen müssen, um sich von diesem Maestro behandeln zu lassen. Ihnen war gesagt worden, dass er der beste Spezialist in New York sei, um ihre Gastroparese zu beheben und ihre Ernährung sicherzustellen, während sie nach einem dritten, vierten und fünften experimentellen Medikament suchten.
    Der kleine Arzt war mit vierköpfigem Gefolge und wehendem weißem Kittel hereingerauscht, um zu verkünden, dass er eine Operation verschoben habe, um sich auf Bitten seines guten Freundes, des Chefs der Onkologie, kurzfristig ihrer anzunehmen. Er verlangte, ohne auch nur guten Tag zu sagen, eine Erklärung, warum sie das Angebot des urologischen Onkologen, an einer Arzneimittel-Eingangsstudie teilzunehmen, ausgeschlagen habe.
    Margaret hatte sich für die erste Begegnung mit dem flotten
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