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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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irgendein Freund bist.«
    Sals Anweisung beunruhigte Enrique. Er wusste, zu einem so kühnen Schritt, und dann auch noch in der Öffentlichkeit, war er nicht fähig. Auch ohne Publikum würde er wahrscheinlich nicht den Mumm haben, Margaret zu küssen. Weil er so angestrengt über diesen Ratschlag nachdachte, vergaß er, seinen Freund zu fragen, ob er wirklich diesen riesigen, heißen Pullover an seiner hageren Gestalt tragen sollte. Die dicke Wolle fühlte sich erst recht beengend an, als er seinen grünen Army-Parka übergezogen hatte, die fünf Treppen hinabgestapft war und die schwere Metalltürzur dreckigen, kalten Eighth Street aufdrückte. Die Luft war eisig, biss ihn in die Augen und ließ seine Nasenspitze augenblicklich taub werden – eigentlich hatte er also keinen Grund zu schwitzen. Aber er fühlte bereits einen besonders großen, heißen Tropfen über seine Rippen zu seiner knochigen Hüfte hinablaufen. Er blieb stehen, um zu befinden, ob er noch die Zeit hatte, wieder nach oben zu rennen, zu duschen und sich dieses riesenhaften Pullovers zu entledigen.
    Während er mit sich debattierte, blickte er hinüber zu den fünf schwarzen Eingangsstufen vor Bernard Weinsteins Haus. Er fragte sich wohl zum zehntausendsten Mal, ob sein Erzfeind auch zu Margarets Essensgästen gehören würde. Verwaist war Bernard allemal. Verwaister als Enrique. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als Bernard noch klein gewesen war, seine Mutter war während Bernards Collegezeit gestorben, und sein Vater hatte längst wieder geheiratet, eine Frau, von der Bernard behauptete, sie hasse ihn. Warum tut mir dieser Armleuchter nicht leid?, fragte sich Enrique. Wie auch immer – Margaret hatte bestimmt genug Mitleid mit Bernard, um ihn ebenfalls zum Waisendinner einzuladen. Er war sich ziemlich sicher, sich mit Bernard und dessen Spitzen herumschlagen zu müssen, seit ihn Margaret angerufen hatte, um ihn zu fragen, ob er Lust habe auf ein Dinner in »einer irren Gruppe. Ich weiß selbst nicht, wer alles kommen wird. Ich habe alle eingeladen, von denen ich weiß, dass sie allein hier in New York sitzen. Und was ich kochen werde, weiß ich auch nicht. Vielleicht müssen wir ja verhungern.«
    Das war seine Chance zu fragen, ob Bernard auch dabei sein würde, aber er war wie gelähmt vor Freude und Verblüffung, dass sie ihn tatsächlich angerufen hatte. Also fragte er nur: »Kann ich was mitbringen?« Er wusste, dass seine Eltern in solchen Situationen so etwas fragen würden.Natürlich war das Mitbringsel seiner Mutter dann ein köstlicher Salat mit Zutaten aus ihrem Gemüsegarten in Maine, und sein Vater buk noch schnell einen ganz speziellen Blaubeerkuchen mit einer dünnen, knusprigen, buttrigen Kruste. Enrique dagegen konnte nicht mehr aufbieten als eine Dose Campbell-Suppe. »Wie wär’s mit einer Flasche Mateus?«, sagte Margaret und lachte ihr typisches Lachen. »Ich bringe eine Kiste mit«, erklärte er, um gute Laune bemüht, und fragte, um welche Uhrzeit er kommen solle. »So um sieben«, sagte sie.
    Er legte auf und fühlte sich gedemütigt, ohne genau sagen zu können, warum. Er fragte sich, ob sie sich über ihn lustig machte, mit diesem Scherz über den Mateus und auch mit ihren Nachfragen zu seiner Schulbildung. Ihm stellte sich ihr lautes, abrupt endendes Lachen jetzt eher als Spott denn als Schüchternheit dar, und er argwöhnte, dass seine Rolle die einer erbärmlichen Figur aus einem Dostojewski-Roman war: ein einsamer, glückloser junger Mann, der sich selbst erniedrigte, indem er einer schönen jungen Frau nachstellte, die ganz offensichtlich über seinem Stand war. Irgendwann würde er Bernard Weinstein den Schädel mit einer Axt spalten, und dann würde dessen unveröffentlichtes Manuskript posthum als Meisterwerk bejubelt werden, während Enrique nur als das neidische Ungeheuer berühmt werden würde, das der Welt ein feinsinniges Genie geraubt hatte.
    Aus dieser trübseligen Stimmung heraus entschied er sich schließlich gegen die Dusche und behielt den saunaartigen Pullover an. Er würde sowieso scheitern, egal, was er anhatte, also marschierte er, trotz der Kälte schwitzend, in einem Zustand erregter Untergangsgewissheit zu Margarets Wohnung.
    Da er sein Haus um 18 Uhr 30 verlassen hatte, erreichte er sein drei Blocks weiter gelegenes Ziel um 18 Uhr 40. Wohl wissend, dass es stillos war, zu früh zu kommen, ging er rascham Haus 55 East Ninth Street vorbei, eingeschüchtert durch den Portier, der so
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