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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Pseudohotelsuite im Sloan-Krankenhaus verdankten sie der Großzügigkeit von Dorothy und Leonard, Margarets Eltern. Enrique war Schriftsteller und konnte seine Arbeit entweder ganz ausfallen lassen oder auf unübliche Zeiten verschieben, so dass er für Margaret und für Max und Gregory da sein konnte. Sie hatten viele Freunde, die ihnen beistanden. Sie hatten beide den Intellekt, um es mit der hierarchischen Welt der Medizin aufzunehmen, und genügend Kontakte zu den Mächtigen New Yorks, um den Ärzten zumindest einen gewissen Druck zu machen. Er sagte es so oft, dass er sich schon ein bisschen unaufrichtig vorkam, wie ein Politiker, der eine Wahlkampfrede hielt: »Für Margaret ist das ein schreckliches Unglück, aber verglichen mit den meisten Familien, die damit fertigwerden müssen, haben wir Glück.« Er meinte jedes Wort ernst. Mit seinen fünfzig Jahren hatte Enrique das Gefühl, seine Lebenszeit darauf vergeudet zu haben, sich dem Selbstmitleid wegen irgendwelcher trivialer beruflicher Enttäuschungen und Fehler hinzugeben. Jetzt, angesichts dieses echten Unglücks, stellte er zu seiner eigenen Überraschung fest, dass er oft genug dankbar war für die Freunde, die er hatte, und die Möglichkeiten in diesem Kampf für Margaret und dass diese Dankbarkeit schwerer wog als die Mutlosigkeit, in die ihn ein Gegner gestürzt hatte, der nicht einmal wusste, dass er, Enrique, existierte.
    Bei Margaret und seinen Söhnen konnte und wollte er keinen Zuspruch suchen. Sein Vater war tot, seine Mutter zu alt und selbstmitleidig, um ein Trost zu sein. Seine Schwiegereltern waren selbst zu panisch und zu verzweifelt. Sein Halbbruder Leo war zu feige und selbstsüchtig. Seine männlichen Freunde lebten fern von diesen Realitäten und könnten nicht verstehen, was er durchlebte. Margarets beste Freundin, Lily, tröstete schon Margaret und sich selbst.Seine Halbschwester Rebecca, die immer da war, einfühlsam und eine große Hilfe, konnte ihn zwischendurch ablösen und ihm ein wenig Mut machen, aber sie konnte ihm nicht das geben – niemand konnte ihm das geben –, worauf er seit fast drei Jahren verzichten musste, was ihm der Krebs genommen hatte und bald für immer nehmen würde: Margarets Zuwendung.
    Während er hier neben ihr lag und auf den nötigen Papierkram wartete, um sie ein letztes Mal nach Hause zu bringen, rechnete er damit, dass sie bald mit ihren letzten Gesprächen beginnen würden, mit ihrem Abschied voneinander. Jetzt würde der Kampf um Margarets Leben nicht mehr alles beherrschen. Selbst darin hatte er Glück, dachte er. Sie war nicht in einem entführten Flugzeug verbrannt oder von einem verirrten Taxi über den Haufen gefahren worden. Selbst im Sterben, tröstete er sich, gab sie ihm etwas Kostbares: die Zeit, sich anständig voneinander zu verabschieden.
    Aber er hatte sich verrechnet. Ihre Entscheidung zu sterben bescherte ihnen einen Menschenauflauf.

5 DAS WAISENDINNER
    E r gab sich Mühe, zu spät zu kommen. Nicht richtig zu spät, nur die konventionellen zehn bis fünfzehn Minuten später, um nicht als Erster da zu sein, was komisch war, weil er sich doch nichts sehnlicher wünschte, als mit ihr allein zu sein.
    Fertig angezogen war er schon eineinhalb Stunden vorher. Er trug eine schwarze Jeans und sein einziges weißes Button-down-Hemd von Brooks Brothers, das er auf einem über den Massivholztisch gebreiteten Handtuch zweimal gebügelt hatte. Der zweite Bügelgang war deshalb nötig gewesen, weil der erste eine Falte im Kragen produziert hatte, die irgendetwas Negatives über ihn aussagen würde, wenn er auch nicht wusste, was. Als schließlich alle Falten eliminiert waren, versteckte er das weiße Hemd gründlich unter einem ebenso weißen, extrem voluminösen, handgestrickten Wollpullover. Angesichts dieses Outfits wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, dass er so viel Überlegung darauf verwandt hatte. Es schmeichelte ihm nämlich nicht gerade. Der Pullover war ein Weihnachtsgeschenk seiner jüdischen Mutter und seines atheistischen Vaters gewesen, aus dem Strickladen einer Frau aus ihrer Nachbarschaft in Maine. Er wäre optimal für einen biertrinkenden Bären von Mann gewesen, da er einen Bauch kaschiert und fetten Hüftenetwas Proportion gegeben hätte. Enrique hingegen wirkte in diesem weißen Wollballon wie eine schwangere Magersüchtige. Oder ein auf zwei Stöckchen gespießter riesiger Wattebausch.
    Er wurde den Verdacht nicht los, dass er in diesem Outfit albern wirkte, und
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