Glückliche Ehe
finster hinter der Glastür hervorstarrte, als käme sein größter Feind sogleich hindurch.
Für jemanden, der neunzehn seiner einundzwanzig Lebensjahre in Manhattan verbracht hatte, besaß Enrique wenig Erfahrung mit Portiers. Im proletarischen Washington Heights gab es keine, schon gar keine wie diesen hier, in einer gestärkten grauen Uniform und hinter einem derart abweisenden Möbelstück verschanzt – das Stehpult war genau auf die Tür ausgerichtet, als wäre der Mann dahinter ein stalinistischer Funktionär, der die Macht hatte, einen in den Gulag zu verbannen. Enrique ging ebendeshalb kaum je in die Upper East Side, weil dort Portiers allgegenwärtig waren. In Richtung Downtown nicht – noch nicht. Dies war das Greenwich Village im Jahr 1975, das ein Bein noch immer in der Boheme der Fünfzigerjahre hatte und das andere tief im Müll der Siebziger.
Enriques Village der Eighth Street wies deutliche Anteile von beidem auf. Die verwaschene rote Fassade der New York Studio School, deren dreckige Fenster aussahen, als stünden die Räume dahinter leer, fiel in der Straße auf, in der ansonsten nur Head Shops und Schuhgeschäfte waren. Diese Heimstatt der abstrakten Expressionisten ließ zu jeder Tages- und Nachtzeit schöne, schwermütige junge Menschen durch die schartigen Metalltüren ein und aus sowie deren verlebte Lehrer, überwiegend glatzköpfige Herren mittleren Alters mit Baskenmützen. Ungerührt passierten die Künstler die finster und gierig blickenden Drogendealer und die in Urinpfützen dösenden Junkies. Von dieser Straße der Kunst und des Verfalls gerade mal drei Blocks uptown zu gehen, war eine Reise in die Zukunft, in das durch und durch bourgeoise Village der Jahrtausendwende.
Als er und Bernard Margaret nach Hause gebracht hatten, war Enrique das außergewöhnlich gediegeneErscheinungsbild ihrer Straße aufgefallen, beginnend mit einem eleganten Vorkriegswohnhaus an der Ecke Ninth Street / University Place. Durch die hohen Fenster sah man ahnungsweise schick möblierte Räume, die etwas Europäisches hatten, als ob die Einrichtung aus Paris importiert worden wäre. Der Rest bestand aus architektonisch nicht weiter bemerkenswerten Nachkriegsgebäuden. Margarets Haus mit den büroetagenartigen Reihen gleich großer Fenster war besonders gesichtslos. Außerdem war ihm aufgefallen, dass der Blick von ihrem Apartment auf einen großen, beigen Backsteinkomplex auf der Downtown-Seite ging, der deshalb nicht total trist und langweilig wirkte, weil er über die Rarität eines Vorgartens verfügte. Selbst jetzt, im Dezember, hatte dieser Streifen von Grün etwas Heiteres, da ein halbes Dutzend Tannen mit weißen Weihnachtslichterketten aus den dreckigen Klumpen von gefrorenem Schnee emporragte.
Auf der Ninth Street zwischen Fifth Avenue und Broadway gab es, ganz im Gegensatz zu den umliegenden Straßen, kein einziges Gewerbegebäude, kein schäbiges Mietshaus oder baufälliges Brownstone-Haus. Das hier war eine Oase, die sich über zwei Blocks erstreckte. Die Demarkationslinie zum gefährlichen, heruntergekommenen East Village war der Broadway. Den Broadway nach Osten zu überschreiten, etwa der würzigen Pastrami und dampfenden Knishes des Second Avenue Deli wegen, bedeutete, den umgekippten Mülltonnen einer den Drogen verfallenen Jugend ausweichen zu müssen und den Anblick der Obdachlosen ebenso zu ertragen wie den der zerplatzten Träume der Möchtegernkünstler und Intellektuellen, die ohnmächtige, wütende Transparente über die zersplitterten Fenster verlassener Mietshäuser spannten. Bald schon sollten diese Straßen das romantische Flair eines modernen Bohemeviertels haben und binnen eines halben Jahrzehnts im Glanz der Gentrification leuchten, aber im Jahr 1975 mied Enrique nacheinundzwanzig Uhr die Gegend östlich des Broadway, weil er keine Lust hatte, sich ausrauben zu lassen. Margarets Ninth Street war in Enriques Augen ein einsames Relikt einer anderen Zeit, der Tage eines Henry James oder einer progressiven Eleanor Roosevelt. Er hielt sie für den letzten Seufzer einer sterbenden Stadt, nie und nimmer aber für den Vorboten eines Manhattan der Jahrtausendwende, das von Millionären wimmelte und zu beiden Flüssen hin teure Eigentumswohnungskomplexe ausschwitzte. Er glaubte, durch die Vergangenheit zu spazieren, während er in Wirklichkeit einen Blick in die Zukunft warf.
Am Broadway wandte er sich uptown, steuerte auf die filigranen neogothischen Türme der Grace Church zu,
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