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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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einer der Lieblingskirchen der mächtigen episkopalischen Elite. Von der Tenth Street bis zur Seventy-Seventh folgte der Broadway nicht dem Gesetz des Rechteckgitters, in dem die Straßen angelegt waren, und schnitt schräg durchs Herz von Manhattan. Enrique betrachtete das alles voller Begeisterung, und der Schweiß unter den Schichten aus Parka und Wolle wurde zu einem eisigen Film, so dass er gleichzeitig schwitzte und fror, was extrem unangenehm war. Er bemerkte, dass der schräge Verlauf der Avenue auf Höhe der Eleventh Street einen in New York seltenen Anblick ermöglichte: Man sah von hier aus nicht einfach das Profil eines Wolkenkratzers, in diesem Fall des zwanzig Blocks weiter nördlich gelegenen Empire State Building, sondern blickte schräg darauf, als ob sich das Gebäude im Fundament gedreht hätte, um Details seiner hübschen Fassade darzubieten. Vor dieser Ansicht, die aus dem neunzehnten Jahrhundert datierende Grace Church im Vordergrund und dahinter das in den Dreißigerjahren erbaute Empire State Building, dessen hell erleuchtete Pracht in den metallisch schwarzen Himmel über die Uptown ragte, fühlte er sich klein und unbedeutend. Er war tatsächlich ein amerikanischerRaskolnikow, zu intelligent, um sich mit seiner Bedeutungslosigkeit abzufinden, und nicht in der Lage, ihr zu entkommen. Er war in seiner Geburtsstadt, der Stadt seiner Kindheit und Jugend, der Stadt seiner ehrgeizigen Träume – und fühlte sich verloren.
    Und außerdem fühlte er sich wie ein Trottel. Zwanzig Minuten auf der Straße totzuschlagen war öde und beängstigend zugleich. Er ging zum Strand , dem Antiquariat am Broadway, Höhe Twelfth Street, und war wie immer froh, die vertrauten Buchrücken der Modern-Library-Klassikerausgaben zu erblicken. Er blieb an dem Tisch stehen, wo sich die wichtigen Non-Fiction-Werke türmten, von Gibbons Verfall und Untergang des römischen Imperiums bis zu Boswells Dr. Samuel Johnson , manövrierte sich dann unauffällig zu den Fächern mit Restexemplaren moderner Belletristik hinüber, arbeitete sich verstohlen zu »S« vor und fand dort dasselbe ramponierte Exemplar seines ersten Romans wie jede Woche (der Rücken war doch tatsächlich gebrochen), zwei seines zweiten, eins davon ohne Schutzumschlag, sowie sechs Exemplare des ersten Romans seiner Mutter. Von den acht Büchern seines Vaters waren nur zwei da. Auf dem Weg nach draußen machte er noch kurz bei den Neuerscheinungen halt, die der Laden dem Umstand verdankte, dass die zahllosen Rezensenten aus der Nachbarschaft sich etwas dazuverdienten, indem sie die Gratis-Rezensionsexemplare, die ihnen die Verlage zuschickten, verbotenerweise verkauften. Darunter waren sogenannte Vorabexemplare mit Werbematerial, das Informationen über die Höhe des Werbeetats und ähnliche Dinge enthielt. Enrique sah sich ein paar an und wurde sofort neidisch, während er sich in Erinnerung rief, dass Literatur kein Wettrennen war und die Leser nicht einen Autor ignorierten, nur weil sie einen anderen mochten. Nachdem er fünfzehn Sekunden lang versucht hatte, allen Romanciers dieser Welt das Beste zu gönnen, musste erdas Vorhaben, seiner Seele Großmut beizubringen, wieder einmal als gescheitert betrachten.
    Der Umweg über das Strand und seine Reise quer durch die Emotionen – Wehmut beim Anblick der Bücher, die im Regal seiner Eltern gestanden und ihn durch seine Kindheit begleitet hatten, intellektuelle Unzulänglichkeitsgefühle, Trauer und Stolz angesichts der beeindruckenden Menge sabasscher Enttäuschungen und schließlich Eifersucht auf seine erfolgreicheren Kollegen – hatten nur zehn Minuten gedauert, also galt es, noch mindestens zehn weitere totzuschlagen. In dieser Zeit hätte er nach Hause zurückgehen, duschen und zwei- bis dreimal den Pullover wechseln können. Mit jeder Minute kam er sich blöder vor.
    Doch als er mit möglichst kleinen Schritten den Broadway wieder fast bis zur Ninth Street hinabgegangen war, auf seine Timex blickte und feststellte, dass sie fünf Minuten vor sieben zeigte, hatte er es plötzlich so eilig, als ob er es auf einem halben Block nach Süden und einem halben Block nach Westen irgendwie schaffen könnte, sich zu verspäten.
    Als er sich schließlich dem griesgrämigen Portier stellte, war es 18 Uhr 58. Er musste seinen Namen zweimal sagen. »Henry – wie?«, fragte der Portier und zuckte mit dem Kopf zurück, als hätte ihn Enrique gerade ins Gesicht geschlagen.
    Er wiederholte langsam und deutlich:

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