Glückliche Ehe
Krebsdiagnose, hatte sie weit über hundert Leute eingeladen, darunter etliche, die kaum mehr als entfernte Bekannte waren, und ein paar, die sie vorher überhaupt nur ein einziges Mal getroffen hatte. Sie hatte darauf bestanden, dass sie, Enrique, Max und Gregory die gesamte Bewirtung der Gäste selbst übernahmen. Enrique hatte sie eine Woche lang bearbeiten müssen, wenigstens einen einsamen Barkeeper anzuheuern. Genauso war es gewesen, als sie die Einweihungsparty in ihrem neuen Haus in Maine gegeben hatten. Es waren Leute aufgekreuzt, die sie beide nur vom Sehen kannten, und in der Nacht davor hatte Margaret ihren Schlaf geopfert, um Sushi machen zu lernen, damit Blue Hill Bay mal eine andere Art von Krabbensandwich kennenlernte.
Sie war Einzelgängerin und Gesellschaftstier zugleich, und wenn man ihn vor ihrer Krankheit gefragt hätte, wie sie sich einmal von der Welt würde verabschieden wollen, hätte Enrique darauf getippt, dass sie viele Freunde und Bekannte aus den verschiedenen Lebensbereichen hätte sehen wollen. Aber sie ließ nur wenige Besucher zu sich, so wie sie auch schon nach der Diagnose wenige Leute gesehen hatte und nur während des Jahrs der Remission wieder im Olympiabecken ihrer sämtlichen Freundschaften geschwommen war. Nachdem dann die Metastasen festgestellt worden waren, hatte sie ihr Sozialleben aufs engste Umfeld beschränkt.
Dass sie nun ausgerechnet Bernard sehen wollte, war nun also die Ausnahme von dieser Regel. Denn so nah hatte ihr Bernard nie gestanden. In den letzten zwanzig Jahren hatten sie sich vielleicht ein halbes Dutzend Mal gesehen, und während ihrer Krankheit hatte Bernard sie beide bis auf einen einzigen Anruf ignoriert – und warum auch nicht? Sie waren nicht wirklich befreundet, und außerdem hatte Margaret Bernard nie ernst genommen. Für sie war er, wie sie esausdrückte, »eine trübe Tasse«, und sie hatte ihre Meinung nicht geändert, nur weil ihn die Welt jetzt als einen Springquell der Weisheit betrachtete.
Bernards ehrgeiziger Wunsch, Romane zu schreiben, hatte sich nicht erfüllt. Im letzten Vierteljahrhundert hatte er sich zu einem der führenden Kulturkritiker des Landes, auf jeden Fall aber zum sichtbarsten entwickelt. Er hatte zehn Jahre lang Bücher für die New York Times und fünf Jahre lang Filme für den New Yorker besprochen, war Kolumnist bei Time und Autor zweier Bestseller mit allgemeinen Kulturbetrachtungen. Er war Stammgast bei Oprah gewesen, als eine Art Schulmeister der Nation in Sachen Literatur, und hatte inzwischen eine wöchentliche Talksendung mit Ikonen der Hochkultur, denen er Enriques Meinung nach einfach nur in den Hintern kroch. »Das ist nicht dein Ernst«, war Margarets Reaktion gewesen, als Enrique ihr erzählt hatte, Bernard habe gemailt, dass er die schreckliche Nachricht gehört habe und sie sehen wolle. Also hatte Enrique nicht geantwortet. Binnen vierundzwanzig Stunden hatte ihnen Bernards Sekretärin mit gelangweilter Stimme auf den Anrufbeantworter gesprochen, Mr. Weinstein würde sich sehr geehrt fühlen, wenn Margaret Zeit hätte, ihn zu empfangen.
»Geehrt?«, wiederholte Margaret mit ihrer schwachen, heiseren Stimme und einem verzerrten Lächeln. Sie war gerade auf dem Weg vom Bett ins Bad und schob unendlich müde ihren Tropf neben sich her. Sie ging gebeugt, ohne Perücke und Make-up, und wirkte wie eine gebrechliche alte Frau. So gesehen zu werden wäre ihr bis vor kurzem noch eine Horrorvorstellung gewesen und machte ihr immer noch zu schaffen. »Ich sehe aus wie eine alte Vettel«, hatte sie zwei Monate zuvor gesagt, als Enrique ihr geholfen hatte, sich für die Nacht auszuziehen. Obwohl sie ihm einen Kuss gab und sich bedankte, wenn er ihr sagte, dass sie immer nochschön sei, wusste er, dass sie ihm nicht glaubte. Oder vielmehr, dass seine Worte sie nicht trösteten. Das Bild, das sie im Spiegel sah, gab aufrichtiger Rückmeldung.
Vor sechs Monaten noch hätte sie stundenlang daran gearbeitet, dass niemand, nicht einmal Enrique, sie in diesem Zustand sah. An diesem ersten Tag ihres öffentlichen Sterbens hatte sie für solche Artigkeiten keine Energie. Ihre sämtlichen Reserven waren aufgebraucht. Sie sah aus, als ob ein Luftzug sie umbringen könnte. Sie hatte Mühe, den Tropf zu schieben, obwohl er mit einem frischen Beutel Hydratationslösung und einer kleineren Dosis flüssiger Steroide bestückt war. Diese Palliativmedikation war neu, verschrieben von Dr. Natalie Ko, der Hospizärztin, die ihre
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