Glückliche Ehe
häusliche Pflege überwachte. Das Mittel sollte ihr für die Woche, in der sie sich von allen verabschieden wollte, mehr Energie geben. Aber die Wirkung hatte noch nicht eingesetzt. Margaret bewegte sich, als ob jeder Schritt kostbare letzte Kraft verbrauchte. Immer wieder blieb sie stehen, um sich Augen und Nase mit einem zusammengeknüllten Zellstofftuch abzutupfen. Seit Beginn der Taxotere-Therapie im letzten Sommer lief ihr ständig die Nase, und ihre Augen tränten. Eine Zeitlang hatten sie ihr verschiedene Antihistaminika gegeben, weil sie davon ausgingen, dass die tränenden Augen eine allergische Reaktion waren. Doch als sie sich schließlich verzweifelt beklagt hatte, dass sich dadurch nichts ändere, hatte ihr schließlich einer der Assistenzärzte am Sloan erklärt, die Tränen kämen daher, dass ihr Körper die Toxine des Taxotere ausschwemme. Drei Monate nach Absetzen des Medikaments, hatte er gesagt, würde es aufhören. Ihre letzte Dosis hatte sie vor zwei Monaten bekommen. Diese Tränen würden sie überdauern.
»Ich werde Bernard sagen, wir haben keine Zeit«, sagte Enrique, zu erschöpft, um sich über dieses pompöse Ersuchen zu mokieren.
»Nein, nein. Bernard kann kommen«, sagte Margaret. »Nur eine Viertelstunde. Das wird amüsant.«
»Warum? Weil er berühmt ist?« Wie die meisten New Yorker Gastgeberinnen schmückte auch Margaret ihre Geselligkeiten gern mit einem prominenten Gast. Enrique hatte ihr im Lauf der Jahre den einen oder anderen Filmstar oder Regisseur für ihre Partys beschafft. Offenbar haftete Bernard jetzt so viel Glamour an, dass der bleiche Wicht, der er war, so etwas wie Glanz verbreitete.
Margaret war nicht beleidigt. Sie wusste, dass Bernards Erfolg ihren von der eigenen Karriere enttäuschten Mann wurmte. Bernards Berühmtheit war so etwas wie ein Witz des Schicksals, als ob Gott Enrique ein Bein in den Weg gestreckt hätte und jetzt darüber lachte, dass er am Boden lag. »Über ihn haben wir uns kennengelernt«, sagte sie achselzuckend und schneuzte sich behutsam die triefende Nase. »Ich weiß nicht, es scheint doch irgendwie … na ja … logisch, oder, Liebling?«, fragte sie Enrique mit zitterndem Kinn. »Er hat mich damals zu dir gebracht.«
Es gab Momente – und das jetzt war so einer –, in denen Enrique nicht atmen und schon gar nichts sagen wollte, weil er Angst hatte, dass ihn dann das Schluchzen schütteln würde, dem er sich manchmal überließ, wenn er allein war. Eine übermächtige Traurigkeit türmte sich in ihm auf, eine donnernde Brandungswelle, die immer größer wurde und gleich darauf spurlos im platten Sand versickerte. Mit bebender Stimme sagte er: » Ich habe ihn dazu gebracht, dich zu mir zu bringen. Wenn es nach Bernard gegangen wäre, hätte ich dich nie wiedergesehen.«
»Ich weiß, Liebling«, sagte sie und versuchte besänftigend zu lächeln, was ihr jedoch nicht gelang. »Aber wenn Zeit ist, lass ihn und Gertie kommen. Nur fünfzehn Minuten. Okay?«
Also bekam Bernard fünfzehn kostbare Minuten von derknappen Zeit, die Enrique noch blieb. Der Zeitplan war am Vorabend erstellt worden, als Dr. Ko ihnen verschiedene Möglichkeiten erläutert hatte, wie und wann Margaret sterben könnte.
»Ich gebe Ihnen für die Tage, an denen Sie Abschied nehmen möchten, Steroide und die komplette intravenöse Flüssigkeitszufuhr, Sie wissen ja, Natrium und die wichtigsten Nährstoffe«, hatte die Hospizärztin erklärt. Dr. Natalie Ko war wie Margaret aus Queens, nur dass ihre erfolgreichen Einwanderer-Großeltern Chinesen gewesen waren. Immerhin waren sie beide Queens entkommen. Ko wohnte jetzt in Brooklyn Heights. Sie erschien am Ende eines langen Tages, in einem braunen Kostüm mit weißer Bluse. Sie war in Margarets Alter und hatte ebenfalls einen Sohn im Abschlussjahr der Highschool. Sie und Margaret hatten gemeinsame Freunde und waren sich früher schon ein-, zweimal bei gesellschaftlichen Anlässen begegnet. Enrique bemerkte, wie Ko die Kunstbücher auf dem Bord über Margarets Schreibtisch und die Fotos der Jungen betrachtete. Während sie Margaret untersuchte, sah sie mehrmals zu dem großen Bild von Gregory und Max empor, das Margaret gemalt hatte: ein Siebenjähriger und sein dreijähriger Bruder, die sich umarmten, beide in Superman-Pyjamas. Als sie mit der Untersuchung fertig war, hängte sie sich das Stethoskop um den Hals, klappte den Kostümkragen so darüber, dass er die schwarzen Gummischläuche verbarg, setzte sich auf die
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