Glückliche Ehe
ersten Woche die zusätzlichen Nährstoffe absetzen. Aber was die Hydratation selbst betrifft – im Moment bekommen Sie drei Beutel. Sie können in der zweiten Woche auf zwei Beutel heruntergehen, dann in der dritten Woche auf einen –« Sie verstummte, weil Margaret langsam, aber entschieden den Kopf schüttelte.
»Nein.« Margaret musste sich die laufende Nase schneuzen. »Nach dieser Woche soll alles beendet werden. Ich will es nicht hinauszögern.«
Das war Enrique nicht neu. So wenig wie die Beschreibung dessen, was mit Margaret passieren würde. Eine Sozialarbeiterin vom Hospiz hatte ihn auf eine seriöse Internetseite verwiesen, damit er sich mit dem Prozess vertraut machen könne. Er hakte im Kopf die Abschnitte der Webseite ab, während Dr. Ko erläuterte, welche Stadien man durchlief, wenn man an Dehydratation starb. Wenn die intravenöse Flüssigkeitszufuhr ganz eingestellt würde, würde Margaret immer schwächer werden, länger schlafen und schließlich nach vier, fünf, höchstens sechs Tagen ins Koma fallen. Sobald sie komatös war, würde ihre Atmung schnell, flach und unregelmäßig werden und manchmal scheinbar ganz zum Erliegen kommen, um dann auf erschreckende Art wieder einzusetzen. Möglicherweise würde sie auch jene gutturalen Laute von sich geben, die in der Literatur eindrücklich als Todesrasseln bezeichnet wurden, tatsächlich aber von dem Schleim herrührten, der sich in ihrer Kehle sammelte, und nicht zwangsläufig signalisierten, dass der Tod unmittelbar bevorstand. Ohne intravenöse Flüssigkeitszufuhr würde ihrHerz nach sieben, äußerstenfalls acht Tagen stehenbleiben. Bis auf das Austrocknen von Mund, Nasengängen und Kehle war der Prozess schmerzlos, und diese Erscheinungen würden sich bei Margaret erst einstellen, wenn sie bereits im Koma lag. Da alle Flüssigkeit, die sie oral zu sich nahm, durch die PEG nach außen abgeleitet wurde, konnte sie, solange sie bei Bewusstsein war, reichlich trinken und die Schleimhautaustrocknung wirksam lindern, ohne dadurch ihr Leben zu verlängern. Wenn es zu irgendwelchen unangenehmen physischen oder psychischen Zuständen käme, würde sie Schmerzmittel oder Ativan bekommen, um den Bewusstseinsverlust zu beschleunigen. »Es wird sehr schnell gehen, wenn wir die intravenöse Flüssigkeitszufuhr erst mal ganz eingestellt haben«, erklärte die Ärztin noch einmal. »Nur wenige Tage, bis Sie sehr schläfrig werden. Möchten Sie, dass es so schnell geht?«
Jetzt zeigte Margaret erstmals Ungeduld. »Ja! Wenn wir in Oregon wären, würde ich wollen, dass Sie mir einfach eine Kugel in den Kopf jagen.«
Die Hospizärztin zuckte erschrocken zusammen. Leise und mit einem scheuen Seitenblick zu Enrique sagte sie: »Studien belegen, dass auch bei Patienten im Endstadium, deren Tod unmittelbar bevorsteht, die gezielte Selbsttötung eine sehr schwere Belastung ist« – sie sah Margaret in die Augen –, »nicht für die Betroffenen selbst, aber für die Angehörigen.«
Margaret verzog keine Miene; sie sah die Ärztin einfach nur ausdruckslos an, als ob sie entweder nicht verstanden hätte, was ihr da eben erklärt worden war, oder aber so betroffen wäre, dass sie erst mal nachdenken müsste. Ihre großen blauen Augen fixierten Dr. Ko, die wortlos wartete, dass ihre Patientin reagierte. Enrique wusste, dass seine Frau nicht über das Gesagte nachdachte. Dieses Schweigen und diesen Blick kannte er. So reagierte Margaret, wenn ihreMutter sie kritisierte oder ihr auf die Nerven fiel. So trotzte sie Enrique, wenn er wütend wurde, eine passive und zugleich unerschütterliche Form des Widerstands, die Ghandi mit Neid erfüllt hätte.
Aber diesmal verblüffte ihn Margaret. Sie wandte sich ihm zu, als hätte sie gerade erst gemerkt, dass er ebenfalls im Zimmer war. »Ich weiß, was ich tue, ist schrecklich«, sagte sie. Es war nicht klar, ob sie mit ihm, mit der Ärztin oder mit Gott sprach. »Ich bürde alles dem armen Endy auf«, sagte sie, indem sie wieder einen ihrer Spitznamen für ihn benutzte. »Aber er ist ja so stark.« Ihre Augen glitzerten, und er war sich sicher, dass es diesmal keine Chemo-Tränen waren. »Er kann es verkraften. Stimmt’s, Liebling? Das kannst du doch für mich tun?«
Natalie Ko verstand nicht, was Margaret da fragte. Sie antwortete: »Ist schon in Ordnung. So ist es für die Angehörigen okay. Es ist ein guter Weg.«
Enrique hatte Margaret verstanden. Ihr war klar geworden, dass ihr Bedürfnis, so leicht und so schnell
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