Glückliche Ehe
lebenslangen Freunden umgeben sein, wenn sie auf ebenjener Holzbank saß, wo sie Jahr um Jahr Abbitte für Sünden geleistet hatte, über die selbst Engel nur lachen würden, und ihrem alten Freund, dem Rabbi, zuhören würde, der die immer gleichen Plattitüden von sich gab, die ebendeshalb tröstlich waren, weil sie längst keine Bedeutung mehr hatten. Sie wollte die Straße entlangfahren, die sie immer schon entlanggefahren war, um die Gräber ihrer verstorbenen Eltern und Schwiegereltern zu besuchen, wollte sich in dieser schmerzlichen neuen Erfahrung sicher fühlen, indem sie dieselben Worte sagte und in dieselbe aufgegrabene Erde starrte.
Wie sollte ihr Enrique erklären, dass Margaret – auch wenn sie bei ihrer Beerdigung tot sein würde –, um in Frieden gehen zu können, die Vorstellung brauchte, sich von den Menschen, die sie liebte, in einer Umgebung zu verabschieden, die sie mochte? In der atmosphärischen Synagoge aus Holz und Stein, die europäische Handwerker in der schäbigen Lower East Side errichtet hatten, wo es keine Parkplätze gab, weil es in den Straßen nur so von Einwanderern gewimmelt hatte, die sich eine Zukunft aufzubauen versuchten. Das war für sie ein jüdisches Erbe, das ihr näher war als ihr gesichtsloses Geburtshaus in Queens oder die Rasenflächen und Malls von Long Island, wohin ihre Eltern nach ihrem Aufstieg in bessere Kreise gezogen waren. So wie der wirre Trost eines buddhistischen Rabbis, der den blanken Tribalismus und den Zorn des Alten Testaments mit modernen Sehnsüchten nach einer toleranten Grundhaltung und nach Harmonie zu verbinden suchte. Würde Enrique Dorothy klarmachen können, wie wichtig es Margaret war, dass ihre letzte Geste gegenüber dem Ehemann und den Söhnen, die sie zu früh verlassen musste, darin bestehen würde, in der Nähe des Ortes begraben zu sein, wo sie sie im Leben geliebt hatte, und in der schönsten und angenehmsten Umgebung, die sie finden konnte? Wie sollte er ihr erklären, dass Margaret auch im Tod noch locken und nicht fordern wollte, dass die wichtigste Lektion, die sie von ihrer Mutter gelernt hatte, darauf hinauslief, von ihrer Familie Gefühle zu wollen und nicht Gehorsam?
Das Grundproblem seiner neunundzwanzig Jahre mit diesen beiden Frauen, die immerhin einen erheblichen Teil zum Erbgut seiner Söhne beigetragen hatten, war gewesen, dass er nur die Möglichkeit gehabt hatte, ohne Diskussionen sein Ding durchzuziehen, um sich gegen Dorothy oder Margaret durchzusetzen – so ihm das je gelungen war. Sobald er sich auf Verhandlungen einließ, hatte er schon verloren. MitMargaret hatte er nach den turbulenten ersten Jahren ihrer Ehe kaum je laut gestritten und mit Dorothy überhaupt nie. Nicht direkt jedenfalls. Ein-, zweimal hatte er sich ihr widersetzt, aber dabei hatte er stets Margarets Position vertreten und sie hatte ihn letztlich nur als Buhmann benutzt. Dabei war es allerdings um so triviale Dinge gegangen wie die Frage, ob sie die Schulferien bei den Cohens in Florida verbringen würden. Die traurigen Fragen, die jetzt anstanden, konnten nicht per Machtspruch entschieden werden. Er musste das Unversöhnliche versöhnen.
Er ging es an, wie seiner Meinung nach wohl ein Diplomat verfahren würde: indem er sich zu Dorothy aufs Sofa setzte, so dicht neben sie, als wären sie ein Liebespaar. Mit ruhiger Stimme sagte er: »Margaret und ich haben das alles besprochen. Sie sagt ganz klar, was sie will. Ich weiß nicht, ob ihr euch noch erinnert, dass wir nicht mehr in die kleine Synagoge hier im Village gehen, die, wo wir bei Max’ und Gregs Bar-Mizwa waren? Jetzt gehen wir in eine große, alte Synagoge in der Lower East Side.« Dorothy wollte ihn unterbrechen, aber er sprach einfach weiter. »Eine teilrenovierte Synagoge aus dem neunzehnten Jahrhundert. Genauer gesagt, ist sie sogar die älteste noch existierende Synagoge New Yorks.«
»Margaret hat mir davon erzählt«, sagte Leonard. Sein Interesse an allem, was mit jüdischer Geschichte zu tun hatte, half ihm aus der dumpfen Verzweiflung. »Sie wird aber nicht mehr genutzt, oder?«
»Unsere Gemeinde mietet sie jeden zweiten Freitag und an den hohen Feiertagen. Unser Rabbi, der Buddhist ist –«
»Buddhist?«, sagte Dorothy, und es war nicht klar, ob ihre weitaufgerissenen Augen erstaunt oder entsetzt blickten. Die Information schien sie jedenfalls nicht gerade zu beruhigen.
»Er bezeichnet sich als Buddhisten, aber er war lange ein ganz traditioneller Rabbi, und wir
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