Glücksfall
für meine Niedergeschla genheit lagen in mir selbst. Wohin ich auch ging, sie kamen mit mir.
Das andere, was die Patienten mit Nervenzusammenbrüchen fürchteten, war die Möglichkeit, dass ihre Krankenkasse die Kosten für den Aufenthalt nicht länger übernehmen und sie in ihr höllisches Leben zurückbefördern würde.
Doch selbst diese Sorge hatte ich nicht, denn vor einigen Monaten hatte ich eine Privatversicherung abgeschlos sen, die auch einen langen Krankenhausaufenthalt abdeckte. Wie es dazu gekommen war, dass ich mein Geld so verantwortungsvoll investiert hatte, weiß ich nicht, es war keinesfalls typisch, aber so war es eben.
Vor meinem misslungenen Versuch, mich umzubringen, hatte ich das Lebendigsein fast unerträglich gefunden, aber ich entdeckte schnell, dass es in Sankt Teresa noch schlimmer war. Wenigstens hatte ich in der Welt draußen die Freiheit, mich in mein Auto zu setzen und einfach nur durch die Gegend zu fahren. Auch vor meinem Klinikaufenthalt war die Zeit unendlich langsam vergangen, aber innerhalb des Krankenhausareals kam sie vollends zum Still stand.
Ich hatte nichts zu tun. Jeden Morgen und jeden Nachmittag gingen die Patienten, die etwas munterer waren, zu ihrem Backkurs oder Mosaikkurs oder einer der anderen beschäftigungstherapeutischen Maßnahmen. Und die Magersüchtigen schnallten sich ihre Gewichte an Fuß- und Handgelenke und hetzten durch die Anlage, bis sie ihre geplanten vier, sechs oder acht Meilen hinter sich gebracht hatten. Manchmal ging eine Krankenschwester raus und brachte sie unter Protest zurück.
Die katatonischen Patienten hockten zusammengesunken im Aufenthaltsraum und ließen vierundzwanzig Stunden lang Fernsehmist auf sich niederregnen, und die, die wirklich am Ende waren, blieben den ganzen Tag im Bett, wo sie ihre Mahlzeiten und ihre Medizin bekamen.
Ich passte in keine der Gruppen. Ich war unruhig, zappelig, voller Angst und sehr, sehr einsam.
Das einzig Gute an der Klinik war meine Schlaftablette. Die Schlaftabletten wurden jeden Abend um zehn Uhr ausgegeben, und ab 20.13 Uhr umschwirrten die Patienten das Schwesternzimmer. Ich fand es demütigend, wie in Einer flog über das Kuckucksnest dafür anstehen zu müssen, und zwang mich deshalb zu Zurückhaltung, aber Himmel! War ich dankbar, wenn ich die Tablette bekam.
Mum und Dad und Bronagh und meine Schwestern kamen mich besuchen, und sie waren, je nach Persönlichkeit, ver stört, entsetzt, tieftraurig und komplett außerstande, mir gute Ratschläge zu erteilen. Alle waren sich darin einig, dass mein Versuch, mich zu ertränken, ziemlich extrem gewesen war.
»Aber du hast es nicht ernsthaft versucht«, sagte Claire immer wieder. »Es war mehr ein Hilferuf, oder?«
Ja? »Eh … ja, vielleicht.«
»So wie das mit den Schlaftabletten?«
»Eh … richtig, ja.«
Mum und Dad bestanden darauf, mit dem jungen Dave zu sprechen, aber nach der Besprechung waren sie noch verwirrter als vorher. »Du musst es langsamer angehen«, sagte Mum zweifelnd. »Nimm dir Zeit, den Duft der Rosen wahrzunehmen, versuch, jedem Stress aus dem Weg zu gehen.«
Bronagh besuchte mich nur einmal. »Hier gehörst du nicht her«, sagte sie. »Das ist nicht die Helen Walsh, die ich kenne. Du bist nicht auf einer geschlossenen Abteilung, oder? Warum gehst du dann nicht nach Hause?« Und schon war sie wieder weg.
Sie hatte recht: Ich war nicht auf einer geschlossenen Abteilung und konnte mich jederzeit selbst entlassen. Und weiß der Himmel, ich wollte raus, ich fand es in der Klinik abscheulich – an einem Tag sahen wir uns in der Gruppe dieselbe Episode von EastEnders dreimal hintereinander an, und außer mir schien das niemand zu bemerken –, aber ich dachte, ich hätte irgendwas noch nicht begriffen. Ich versuchte rauszubekommen, wie die Klinik funktionierte. Menschen wurden völlig gebrochen eingeliefert, und wenn sie entlassen wurden, ging es ihnen besser. Worin bestand das Geheimnis?
Ich versuchte es also. Ich versuchte es damit, den gan zen Tag im Bett zu bleiben, ich versuchte, stundenlang fern zusehen, ich lieh mir Camillas Hanteln – sie gab sie mir nur sehr widerstrebend –, rannte im Klinikgarten umher, beugte und streckte die Arme. Irgendwann versuchte ich es sogar mit Werken. Ich baute einen Nistkasten. Alle bauten Nistkästen.
Ich fragte Dave immer wieder: »Wie lange dauert es, bis es mir besser geht?« Und er wich mir aus und sagte: »Solange Sie hier sind, sind Sie in Sicherheit.«
»Aber ich fühle
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