Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glücksfall

Glücksfall

Titel: Glücksfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
Vom Netzwerk:
auch noch The Wonder of Now , damit erzielen wir gute Ergebnisse.«
    »Und was ist das?«
    Dave versuchte es zu erklären, es hatte damit zu tun, dass man für den Moment leben sollte, aber ich war zu erregt, um ihm richtig zuhören zu können. »Ich brauche Medikamente«, sagte ich flehentlich. »Ich brauche ganz spezielle, starke Tabletten oder Beruhigungsmittel. Xanax. Bitte geben Sie mir Xanax.«
    Er tat es nicht. Anscheinend wurde Xanax nur in Notfällen und als kurzfristige Maßnahme verschrieben.
    »Ich habe versucht, mich umzubringen«, sagte ich. »Wie schlimm muss es denn noch mit mir werden?«
    »Sie waren in der Lage, sich selbst einzuweisen.«
    »Ich habe mich in eine psychiatrische Klinik eingewie sen«, sagte ich. »Das heißt, im Kopf geht es mir gar nicht gut. Deshalb brauche ich Xanax.«
    Aber er schmunzelte nur und sagte, ich könne sehr gut argumentieren und solle vielleicht eine Karriere als Anwältin erwägen.
    Camilla war magersüchtig. Sie war nicht schwierig. Wahr scheinlich hatte sie gar nicht die Energie dazu. Den ganzen Tag aß sie nichts, bis zum Abend, dann verspeiste sie einen großen Teller Salat. Sie war ganz versessen auf Farmersalat. Sie musste welchen essen. Komisch, ich hatte gedacht, Magersüchtige essen gar nichts, und diese aß sehr wenig, das schon, aber sie aß, und was sie aß, war sehr bewusst ausgewählt.
    Am ersten Abend fragte sie mich: »Warum bist du hier?«
    »Depression.«
    »Welcher Art?«, fragte sie neugierig. »Bipolar? Postnatal?« Postnatale Depression war besonders interessant, weil es eine Variante mit ziemlich extremen psychotischen Zuständen gab, die sich gerade einiger Beliebtheit erfreute.
    »Eine ganz gewöhnliche Depression«, sagte ich leicht beschämt. »Die meiste Zeit möchte ich einfach nur sterben.«
    »Ach die …«
    Die gab es dutzendweise.
    Zu meiner Überraschung (von der äußerst unwillkommenen Sorte) erfuhr ich von den anderen Patienten keinerlei Solidarität oder Unterstützung. Es war nicht wie bei meiner Schwester Rachel, als sie in einer Entzugsklinik war. Soweit ich das damals sehen konnte, hatten sich dort alle Bewohner gegenseitig geholfen.
    Aber hier war jeder in seiner eigenen privaten Hölle eingesperrt. Wir hatten alle unterschiedliche Gründe für unseren Aufenthalt: Magersucht, Zwangsstörung, bipolare Depression, postnatale Depression, ganz gewöhnliche, altmodische Nervenzusammenbrüche.
    Obwohl es medizinisch gesehen Nervenzusammenbrüche nicht mehr gab (sie waren umbenannt worden und hie-ßen jetzt »Große depressive Episoden«), war Sankt Teresa voll mit Patienten, die einen gehabt hatten: Männer und Frauen, die vom Leben überfordert waren, von den Anforderungen ihrer Kinder, ihrer Eltern, ihrer Bank oder ihrer Arbeitsstelle – besonders ihrer Arbeitsstelle. Menschen, auf die immer mehr Verantwortung geladen worden war, bis zu einem Punkt, wo das überladene System zusammenbrach und der Mensch nicht mehr funktionieren konnte.
    Die Klinik war ihre Zuflucht. Viele waren seit mehreren Wochen hier, manche schon seit Monaten, und sie wollten gar nicht mehr raus, denn solange sie in der Klinik waren, konnte niemand sie anrufen, niemand ihnen E-Mails oder bedrohliche Briefe schicken, in denen stand, wie viel Geld sie schuldeten. Solange sie in der Klinik waren, mussten sie auch ihre an Alzheimer erkrankte Mutter nicht von der Polizeiwache abholen, sie mussten sich nicht mit dem Gerichtsvollzieher rumschlagen, der sie bis zu ihrem Arbeits platz verfolgte, mussten keine Familie versorgen und nach vier Stunden Schlaf pro Nacht ihre Arbeit machen.
    Viele der Patienten, die einen Nervenzusammenbruch erlitten hatten, waren Unternehmer, deren Unternehmen Konkurs gemacht hatte und die Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen schuldeten, die sie niemals zurückzahlen konnten. Sie hatten entsetzliche Angst, wieder in die wirkliche Welt geschickt zu werden, wo Leute ihnen an den Kragen wollten. In Sankt Teresa konnten sie schlafen und aus dem Fenster starren und fernsehen und nichts im Kopf haben – alles weiß und leer. Hier hatten sie ihren Frieden, hier war es ruhig, sie bekamen ihre Medikamente und drei Mahlzeiten am Tag (widerwärtiges Essen, aber das nur am Rande).
    Das Einzige, wovor sie Angst hatten, waren die wöchentlichen Berichte ihrer Psychiater. Sie fürchteten, plötzlich als geheilt zu gelten und nach Hause geschickt zu werden.
    Ich war anders als sie. Das, was mich bedrückte, die Ursachen – welche auch immer –

Weitere Kostenlose Bücher