Glücksfall
dachte voller Hoffnung: Vielleicht habe ich mir nur einen Muskel gezerrt.
Aber ich wusste, das war es nicht. Schwärze zog in meinem Inneren auf und breitete sich wie öliges Gift aus, und von außen drückte eine noch tiefere Schwärze auf mich, als würde ich mit einem Aufzug in die Tiefe stürzen.
Ich hatte Angst vor dem, was da draußen lauerte – ein schrecklicher, dunkel bewölkter Himmel, ganz unangemessen für Juni –, aber ich hatte noch größere Angst davor, im Bett zu bleiben.
Ich überlegte, ob ich sofort mit der Suche nach Wayne beginnen sollte, also, ob ich mich unverzüglich ins Auto setzen und nach Clonakilty fahren sollte, immerhin eine Fahrt von gut vier Stunden. Egal was John Joseph gesagt hatte, ein Besuch bei Waynes Familie war ganz offensichtlich der nächste Schritt. Nein, Moment mal … zurück – offensichtlich der nächste Schritt? Bisher hatte jeder gesagt, dass Wayne nicht an einem offensichtlichen Ort sein würde. Also sollte ich, gegen meine Intuition, den Besuch in Clonakilty erst mal verschieben, weil es zu offensichtlich war. Es sei denn, es war ein geschickter Doppelbluff von Wayne und so offensichtlich, dass es überhaupt nicht offensichtlich war … Himmel, es war einfach noch zu früh am Tag für diese Akrobatik im Kopf.
Mum saß in dem Zimmer gegenüber, dem Büro, am Computer.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Ich guck mir die Schlampe auf YouTube an.«
»Welche Schlampe?«
Sie brachte kaum den Namen heraus, so stark presste sie die Lippen zusammen.
»Zeezah. Komm, sieh sie dir an«, forderte sie mich auf. »Es ist so widerlich.«
Aber faszinierend.
»Man könnte denken, sie balanciert auf einem Surfbrett«, sagte Mum und starrte auf den Bildschirm. »Und ihr Frauenarzt liegt auf demselben Surfbrett auf dem Rücken und versucht, bei ihr einen Abstrich zu machen, und sie ist einverstanden, aber dann bringen die Wellen sie immer wieder aus dem Gleichgewicht, und wenn sie sich gefangen hat, geht sie wieder in die Hocke … Das mit dem Islam verstehe ich nicht«, sagte Mum. »Ich dachte, die Mullahs kommen und vertrimmen sie mit einem Bambusrohr, wenn ihnen versehentlich die Burka verrutscht und ein Mann ein Stück von der Augenbraue zu sehen kriegt, aber schau sie dir doch an, wie sie sich verrenkt. Ich versteh das einfach nicht!«
So rätselten wir über die Widersprüche des Islam. Oder Mum rätselte, und ich hörte zu, offenbar fehlte mir die Energie zu sprechen.
»Soll ich es noch einmal abspielen?«, fragte Mum.
»Warum nicht?« Sie hatte sowieso schon auf Wiederholung gedrückt.
»Warum hat John Joseph eine Muslimin geheiratet, wenn er doch ein frommer Katholik ist? Und warum ging das alles so schnell? ›Eine Liebesaffäre im Wirbelwind‹, haben die Zeitungen geschrieben. Vier Monate von dem Moment, als sie sich kennenlernten, bis zur Hochzeit. Wahrscheinlich brauchte sie ein Visum.«
»Aber will sie nicht zum Katholizismus konvertieren? Haben sie ihre Hochzeitsreise nicht nach Rom gemacht? Haben sie nicht einen Segen vom ›Heiligen Vater‹ bekommen?« Ich sagte »Heiliger Vater« in einem sarkastischen Ton.
»Das haben sie ganz bestimmt nicht. Und sag ›Heiliger Vater‹ nicht in diesem Ton. Ich höre die Verachtung in deiner Stimme.«
»Egal. Es ist so schummrig hier, Mum, können wir das Licht anschalten?«
»Das Licht ist an.«
Tatsächlich, es war an.
»Möchtest du Frühstück?«, fragte sie, nachdem wir uns den Zeezah-Clip noch drei- oder viermal angesehen hatten.
Ich schüttelte den Kopf.
»Gott sei Dank.«
»Warum?«
»Wir haben nichts im Haus.«
»Warum nicht?« Ich wollte wirklich kein Frühstück, aber es kränkte mich, dass meine Eltern ihren Pflichten ihrem Kind gegenüber nicht nachkamen.
»Wir gehen jeden Morgen ins CaffeinePeople und trinken eine Latte und essen Dinkel-Muffins. Wir lesen die Zeitung. Die sind an solchen Stäben aufgehängt. Man liest die Zeitung, dann hängt man sie wieder an den Ständer. Wir sind wie die Europäer. Du kannst mitkommen, wenn du versprichst, die Zeitung nicht zu stehlen oder uns Schande zu machen.«
Unvermittelt und zu meiner eigenen Überraschung traf ich eine Entscheidung. »Ich glaube, ich gehe zum Arzt.«
»Wegen der Geier?«
Ich nickte. »Und noch ein paar anderer Sachen.«
»Welche Sachen?«
»Ach, na ja …«
»Hast du deinen Alexander-McQueen-Schal weggegeben?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann ist es nicht so schlimm.«
Ich biss mir auf die Lippe. Es hatte keinen Sinn,
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