Glücksfall
ich in dem Versuch, sie anzufeuern, »tut mir den Gefallen. Platzt! Platzt doch!«
»Gut«, sagte er. »Ein Gehirntumor ist bei Ihnen sehr unwahrscheinlich.«
»Sie brauchen mich nicht zu schonen. Die Chemotherapie ängstigt mich nicht, die Operation auch nicht, das ist mir alles egal. Ich will nur, dass es angepackt wird.«
»Das hört sich für mich eher nach einer Depression an.«
Er hätte ebenso gut sagen können, er glaubte, mir würden Feenflügel aus dem Rücken wachsen.
Depression war etwas, das es nicht gab. Wir alle hatten Tage, an denen wir uns dick oder arm oder müde fühlten, Tage, an denen die Welt feindselig und abweisend war und es sicherer schien, im Bett zu bleiben. Aber das war das Leben. Das war kein Grund, Tabletten zu nehmen oder sich krankschreiben zu lassen. Pommes und Fernsehen mitten am Tag und anschließend ein paar Spontankäufe bei ASOS waren eine viel bessere Kur.
Jedenfalls fühlte ich mich nicht deprimiert, es war eher so, dass ich … Angst hatte.
»Ich verschreibe Ihnen ein Antidepressivum.«
»Nicht nötig.«
»Nehmen Sie das Rezept doch einfach mit. Sie brauchen die Tabletten ja nicht zu holen, wenn Sie nicht wollen, aber Sie haben es zur Hand, falls Sie es sich anders überlegen.«
»Das wird sicher nicht passieren.«
Himmel, ich hatte ja keine Ahnung.
15
W ährend ich auf den Rückruf von Shannon O’Malley wartete, wählte ich die Nummer von Head Candy, dem Friseur, den Wayne gestern dreimal angerufen hatte. Diesmal hatte ich Glück, eine Mädchenstimme meldete sich mit: »Head Candy.« Dann hörte ich ein anderes Klingelsignal, und das Mädchen sagte: »Einen Moment bitte«, und bevor ich etwas antworten konnte, machte es klick , und ich musste mir anderthalb Minuten lang irgendein Gedudel anhören. Dabei wusste ich, dass sie weder auf der anderen Leitung sprach noch eine Kundin hatte, sondern einfach in die Luft starrte und mit ihren Fingernägeln mit Leopardenmuster auf die Theke trommelte, aber so ist das eben, wenn man beim Friseur anruft, oder? Einen höflich zu behandeln kommt für sie nicht infrage, da gibt es keine Ausnahme, sie haben ihren Kodex, der so unnachgiebig und heilig ist wie der der Samurai.
Nachdem der genau bemessene Zeitraum für eine Beleidigung verstrichen war, kam sie wieder an den Apparat. »Was kann ich für Sie tun?« Vor meinem geistigen Auge sah ich den pfauenblauen Streifen in ihrem albinoweißen, zwanzig Zentimeter hohen asymmetrischen Haarturm, der hart wie Eischnee war.
»Sie, mein Fräulein«, sagte ich und gab meiner Stimme einen warmen Ton. »Sie stehen ganz oben auf meiner Tonnenliste.« Dann sprach ich schnell weiter. Es ist ganz wichtig, schnell weiterzusprechen, wenn man gerade jemanden heruntergemacht hat. Man darf ihm keine Chance geben, sich zu fangen, das ist wirklich wichtig. »Hi, ich bin …« Wer sollte ich heute sein? »… Ditzy Shankill. Die Assistentin von Wayne Diffney. Wayne hat sein Handy verloren. Er glaubt, er könnte es bei Ihnen liegen lassen haben. Er war doch bei Ihnen …«
Jetzt komm schon, Eischnee-Kopf, sag mir, ob du ihn gesehen hast.
»Aber er ist doch gar nicht gekommen. Nein, da oben, auf dem Bord, eins drüber.«
Laut Klausel vierzehn im Verhaltenskodex für Friseurinnen ist es Pflicht, sich mit einem körperlich anwesenden Menschen zu unterhalten, während man gleichzeitig mit einem körperlich abwesenden Menschen am Telefon spricht.
»Wie bitte? Wayne ist nicht gekommen?«
»Das macht fünfundvierzig Euro. Möchten Sie noch Shampoo? Nein? Laser? Nein, Wayne hatte einen Termin bei Jenna, gestern um eins, aber er ist nicht gekommen.«
»Wann hat er den Termin gemacht?«
»Geben Sie hier Ihre PIN ein. Gestern Morgen. Um halb neun. Wir hatten gerade aufgemacht. Es sei dringend, sagte er. Aber Jenna konnte frühestens um eins, und selbst dann mussten wir noch andere Kunden verschieben. Und dann ist er nicht gekommen.«
»Hat er angerufen, um den Termin abzusagen?«
»Nein. Und ich habe Ärger mit Jenna gekriegt. Aber woher sollte ich das wissen? Das hat er noch nie gemacht.«
»Hat Wayne seine Termine sonst auch in letzter Minute gemacht?«
»Nein. Er ist ein ruhiger Typ. Unauffällig. Normalerweise.«
»Danke, Sie haben mir sehr geholfen.«
»Wirklich?« Sie klang beunruhigt. Würde sie jetzt wieder irgendwelchen Ärger bekommen?
Mum kam rein und wollte mich überreden, mit ihr und Dad ins CoffeeNation zu gehen.
»Ich habe heute Morgen viel zu tun«, sagte ich. »Ich muss zum
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