Glücksfall
wirkte irgendwie getrieben. Trotz der wenigen Haare war er nicht alt. Das gefiel mir. Alte Ärzte fand ich unerträglich, sie spielten sich auf, als wären sie Gott, was sie längst nicht mehr sind, seit wir bei Google unsere Symptome eingeben und unsere eigenen Diagnosen stellen können.
»Helen … ah … Walsh.« Er klapperte weiter und gab mich in seine Datenbank ein.
Dann schob er alles beiseite, sah mir ins Gesicht und fragte, als würde ihn das wirklich interessieren: »Wie geht es Ihnen?«
»Sie sind der Experte«, sagte ich. »Sagen Sie es mir.« Wofür, glaubte er, bezahlte ich ihm sechzig Euro? »Ich sage Ihnen, wie es aussieht: Ich wache jeden Morgen um vier Uhr vierundvierzig auf, ich kann nichts Richtiges essen – ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Hühnchen gegessen habe –, und wie es bei True Blood weitergeht, interessiert mich plötzlich auch nicht mehr.«
»Weitere Symptome?«
»Ich glaube, ich habe einen Gehirntumor, und ich glaube, er drückt auf einen Teil meines Gehirns und bewirkt, dass ich komisch werde. Können Sie eine CT machen lassen?«
»Schwindelanfälle? Lichtblitze? Beeinträchtigte Sicht?«
»Nein.«
»Kopfschmerzen? Gedächtnislücken? Farbenblindheit?«
»Nein.«
»Was tun Sie gerne? Was bereitet Ihnen zurzeit Freude?«
»Nichts«, sagte ich. »Aber für mich ist das normal, ich bin von Natur aus unzufrieden.«
»Wirklich nichts? Musik? Kunst? Wie steht es mit Schuhen?«
Ich war überrascht (eine Überraschung von der angenehmen Sorte). »Sehr gut, Doc.« Ich sah ihn fast bewundernd an. »Schuhe sind sehr wichtig.«
»So sehr wie sonst auch?«
»Hmm … Meistens kaufe ich Schuhe im Dezember, mit hohen Absätzen und Glitzerzeug, für Partys und so, aber jetzt, wo Sie es erwähnen – dieses Jahr habe ich noch gar nicht daran gedacht.«
»Handtaschen?«
»Jetzt wollen Sie sich nur einschmeicheln.« Dann fiel mir etwas ein. »Also … meine Schwester Claire hat eine neue Tasche von Mulberry, dunkelgrau, aus Ponyleder. Nicht dass ich glaube, Sie würden das Modell kennen, aber es ist eine fabelhafte Tasche, und ich leihe mir immer Claires neue Sachen aus – ich meine, natürlich ohne sie vorher zu fragen. Diesmal habe ich es nicht getan.«
»Wie ist es mit der Arbeit? Sie sind … eh …« Er studierte mein Formular. »… Privatdetektivin. Mein Gott.« Seine Miene hellte sich auf. »Das kling interessant.«
»Das sagen alle.«
»Und? Ist es interessant?«
»Na ja …« Zugegeben, inzwischen war es schon eine Weile her, dass ich es interessant gefunden hatte, mir ein Versteck zu buddeln. Tatsache war, dass meine anfängliche – ja, Entschuldigung, aber ich muss es so nennen – Gier nachgelassen hatte. Es war eher die Angst vor Armut als die Liebe zu meinem Job, weshalb ich Anrufe beantwortete und zu Besprechungen ging. Und nachdem mir vor einer Weile ein Mann, den ich observierte, in die Magengrube geboxt hatte, war ich weniger vertrauensvoll beim Ausspionieren von Bösewichten.
»Es verursacht sicher starken Stress, könnte ich mir vorstellen«, sagte er und überraschte mich mit seinem Einfühlungsvermögen.
»Das stimmt.« Die langen Tage, die Ungewissheit, ob man ein Ergebnis bekam oder nicht, die Angst vor körperlichem Schaden, die Tatsache, dass man nicht zur Toilette gehen konnte – es kam alles zusammen.
»Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?«, fragte er.
Da war noch etwas, und ich dachte, ich sollte es ihm erzählen. »Sie kennen bestimmt die Geschichte, die in allen Nachrichten war, von den vier jungen Leuten, die bei einem Autounfall in Carlow ums Leben gekommen sind? Ich weiß, es ist schlimm, so etwas zu sagen, aber ich wünschte, ich wäre einer von ihnen gewesen.«
Er machte sich eine Notiz. »Haben Sie öfter solche mittelbaren Todeswünsche?«
»Was meinen Sie damit?«
»Das, was Sie gerade geschildert haben. Wenn man den Wunsch hat zu sterben, aber nicht unbedingt einen Plan, den eigenen Tod herbeizuführen.«
»Genau so fühlt es sich an«, sagte ich, fast ein wenig erregt, weil jemand anders meine merkwürdigen, furchterregenden Gedanken in Worte kleidete. »Ich wünschte, ich wäre tot, aber ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Zum Beispiel hätte ich sehr gern ein Aneurysma.« Immer wieder im Laufe eines Tages versuchte ich es herbeizureden, ich redete auf die Blutgefäße in meinem Gehirn so intensiv ein wie andere Menschen auf ihre Grünpflanzen, und bat sie inständig zu platzen. »Jetzt mal los«, sagte
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