Glücksfall
ihr zu sagen, dass ich über meinen Alexander-McQueen-Schal längst hinweg war.
Man musste aktiv sein, dann konnte man es schaffen. Ich fand also meinen Drucker, stöpselte ihn ein, verband ihn mit dem Computer und druckte die fünf Fotos von dem glatzköpfigen Wayne aus, die ich etwaigen Zeugen vorlegen konnte.
Als ich damit fertig war, beschloss ich, Artie anzurufen. Dann zögerte ich. Ich fühlte mich so merkwürdig, so abgetrennt von der Welt, vielleicht war es keine gute Idee, mit ihm zu sprechen. Ich wusste nicht, ob es mir gelingen würde, normal zu klingen, und ich wollte ihn nicht beunruhigen.
Und was, wenn er beunruhigt wäre? Wenn er mit mir so, wie ich war, nicht zurechtkam? Was wäre dann mit uns?
Diese Gedanken waren so unangenehm, dass ich beschloss, nichts zu riskieren. Ich würde ihn nicht anrufen, oder erst später. Aber ich fand nichts Spannendes im Netz, keine aufregenden Trennungen von Berühmtheiten, keine Zusammenbrüche, und nach einer Weile beschloss ich, ihn doch anzurufen. Er müsste sich einfach damit abfinden, dass ich merkwürdig war.
Und dann, nach all diesen Überlegungen, war sein Handy abgeschaltet. Vielleicht war er joggen gegangen. Vielleicht war er aber auch schon im Büro und hatte eine Besprechung. Vielleicht war er mit seinen Kindern beim Frühstück – und sie aßen Eierkuchen, die er ihnen selbst gebacken hatte. Bei der Vorstellung, dass sie alle um den Tisch saßen und Eierkuchen mit Blaubeeren und Ahornsirup aßen, überfiel mich ein unangenehmes Gefühl, das ich als milde Eifersucht identifizierte. Schwierig, wenn dein Geliebter ein treu sorgender Vater ist. Den Gedanken zuzulassen, dass ich für Artie, sosehr er mir auch zugeneigt war, nie an erster Stelle stehen würde, war wirklich eine Herausforderung.
Gut, ich musste mich mit etwas anderem beschäftigen. Ich versuchte es wieder mit Waynes Handy – auch abgeschaltet. Was war mit seiner Website – würde die mir Aufschluss über seine Persönlichkeit geben? Aber es war nur eine Anzeige der Plattenfirma mit rein sachlichen Informationen – seine Alben, seine Auftritte, solche Sachen. Auf der Website stand nach wie vor, dass er am nächsten Mittwoch, Donnerstag und Freitag im MusicDrome spielen würde. Na, das würde sich zeigen.
Es war 7.58 Uhr, zu früh, um Birdie Salaman anzurufen, deshalb sah ich mir eine Auswahl von Halstüchern im Netz an, während die Minuten langsam dahinkrochen. Endlich – endlich! – war es halb neun, eine passable Zeit für einen Anruf, aber nach dreimal Klingeln sprang Birdies Anrufbeantworter an. Wurden Anrufe sondiert? War sie zur Arbeit gegangen? Wer weiß. Ich hinterließ eine Nachricht, holte tief Luft und wählte die Nummer von Dr. Waterbury. Dabei betete ich insgeheim, dass er Shannon O’Malley, seine Sprechstundenhilfe, mit der ich zur Schule gegangen war, inzwischen gefeuert hatte.
Leider war sie immer noch da und freute sich anscheinend, mich am Apparat zu haben. »Helen Walsh! Von dir habe ich neulich gerade gesprochen! Ich habe Josie Fogarty getroffen, die hat inzwischen vier Kinder, und sie sagte: ›Erinnerst du dich an Helen Walsh, wie verrückt die war?‹ Bist du inzwischen verheiratet? Wir müssen uns mal auf ein Glas Wein treffen, einen Abend ohne Kinder. Toll , dass du anrufst. Wie geht es dir?«
»Erfreue mich bester geistiger und körperlicher Gesundheit«, sagte ich. »Weshalb ich einen Termin machen möchte.«
»Gott, du bist zum Schreien komisch«, sagte sie. »Aber das warst du ja schon immer.«
Ich würde mir einen anderen Arzt suchen müssen, wenn mir jedes Mal, wenn ich einen Termin machen wollte, dieses Geschwätz drohte.
»Ich habe den Terminkalender vor mir«, sagte sie. »Heute ist er bis unters Dach voll, aber ich guck mal, ob ich dich zwischenschieben kann, weil du eine alte Freundin bist. Gib mir mal deine Nummer, ich rufe dich zurück.«
Das erste Mal war ich bei Dr. Waterbury – ich rechnete im Kopf nach – im Dezember 2009 gewesen, also vor zweieinhalb Jahren. Sechs Monate davor war ich in meine neue Wohnung gezogen, und seine Praxis lag in der Nachbarschaft.
Damals war nicht Shannon seine Sprechstundenhilfe gewesen, sondern eine Frau, die ich nicht kannte, und ich musste ziemlich lange warten. Allerdings war es Dezember, da ist bei Ärzten immer viel los.
Als ich schließlich in das innere Heiligtum vorgelassen wurde, sah Dr. Waterbury kaum auf und hämmerte weiter auf die Tasten seines Computers ein. Er hatte eine Stirnglatze und
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