Glückskind (German Edition)
dünn und braun gebrannt, sein Gesicht ist hübsch, sein hellbraunes Haar schimmert im Licht. Er hat seine Arme der ganzen Länge nach über das Geländer gelegt, sein Rücken lehnt daran, ein Bein hat er angewinkelt und den Fuß gegen das Mäuerchen unter dem Geländer gestellt. Es sieht sehr lässig aus, wie er da steht. Aber irgendetwas ist geschehen. Was war es?
Hans schließt die Augen und sucht. Er weiß noch, dass er gekränkt war, doch es war mehr als das. Hans findet ein Gefühl, das wie ein Ariadnefaden in das Labyrinth seiner Kindheit zurückführt. Es ist, als ob er nicht gesehen worden wäre als der Hans, der er ist, als ob seine Eltern jemand anderen in ihm gesehen hätten, jemanden, den er, Hans, nicht einmal kennt, und wenn sie ihm Vorwürfe machten wegen irgendwelcher Vergehen, dann verstand er sie nicht, weil der andere, der fremde Hans sie begangen hatte, nicht er. Hans erinnert sich nicht, was vor dem Foto geschehen war, dass plötzlich die Trauer seiner Eltern auch in seinen Augen wohnte. Es muss eine Kleinigkeit gewesen sein, überlegt er. Eine Kleinigkeit, die sich so oft wiederholt hatte, dass er damals plötzlich etwas ganz Wesentliches verstanden hatte, etwas, das sein weiteres Leben verändern sollte. Etwas sehr Hilfreiches, das ihn später einmal sehr behindert haben musste. Hans atmet tief durch. Vielleicht ist es besser, weggeworfen zu werden und zu sterben, denkt er, als so zu leben, wie ich gelebt habe. Ohne die Hoffnung, jemals so gesehen zu werden, wie man wirklich ist. Denn das sagt ihm dieses Foto, auf dem er neun Jahre alt ist: dass er damals diese Hoffnung verlor. Dass er seitdem immer gewusst hat, was er von seinen Eltern nicht erwarten kann: dass sie wissen, wer er ist. Dass er sie niemals davon abbringen würde, ihn für Dinge verantwortlich zu machen, die er nicht war. Dass er kein Träumer war, sondern voller Gedanken. Kein Einzelgänger, sondern ängstlich, kein Tollpatsch, sondern einfach nicht interessiert am Basteln und Werken, kein Stubenhocker, sondern einer, der fürchtete, von den Gleichaltrigen nicht angenommen zu werden. Niemand, der absichtlich den Kühlschrank offen stehen lässt, obwohl man es ihm schon hundertmal gesagt hat, sondern jemand, der sich nur das merken konnte, was man freundlich zu ihm sagte. Und es gab so wenig Freundlichkeit, dass er sich fast nichts merken konnte.
Hans schließt das Album. Er lehnt sich zurück in seinem Stuhl. Er fühlt eine Hitze, die durch seinen ganzen Körper rollt, von unten nach oben und wieder zurück. Er steht auf und füllt den Wasserkocher mit Wasser. Er steht neben dem Wasserkocher und wartet, bis das Wasser heiß genug ist. Er bereitet eine Flasche für Felizia vor. Dann geht er ins Bad, putzt sich die Zähne und das Gesicht. Er löscht alle Lichter und begibt sich mit der Flasche ins Schlafzimmer. Er zieht sich bis auf die Unterwäsche aus und schlüpft unter die Decke. Er lässt die kleine Nachttischlampe brennen und betrachtet das schlafende Baby.
Er denkt: Gesehen werden.
Er denkt: Wie viele unsichtbare Menschen gibt es auf der Welt?
Er weiß plötzlich, dass das Nicht-gesehen-Werden zu einer Eigenschaft wird, wenn man es lange genug erfährt. Er schläft im Sitzen ein, die Trinkflasche in der Hand.
Er träumt. Er hat es geschafft, durch die aufgesprengte Tür in das rote Gebirge einzudringen. Ein schmaler Gang führt ihn hinein. Plötzlich befindet er sich auf einem Metallgerüst, das über kochende Lava hinwegführt, es sieht aus wie eine Industrieanlage, wie eine Metallgießerei. Heiße Luft steigt von unten herauf. Die Szenerie ist von gleißendem rötlichem Licht erleuchtet. Hans versucht sich daran zu erinnern, wo er in Wirklichkeit ist, er sagt sich: Ich schlafe im Sitzen in meiner Wohnung. Aber er sieht es nicht mehr, der gleißende Schein, der von der Lava unter ihm ausgeht, überstrahlt alles. Hans geht weiter voran auf dem Gerüst. Ein Teil stürzt ein, die Gitter, auf denen er geht, fallen heraus, er hängt an einer Strebe und zieht sich hoch, er balanciert über Eisenstangen, hält sich an Stahlträgern fest. Mit einem Mal sieht er eine Abzweigung im Fels. Sie führt nach unten, ein Tunnel, der ins Gestein gehauen ist. Er folgt ihm, es geht tiefer hinab, immer tiefer. Dann kommt er unten an. Er steht in der Dunkelheit und tastet die Wand ab. Eine Sackgasse. Wenn ich hierbleibe, denkt Hans, werde ich sterben. Er schließt die Augen und stellt sich vor, dass er immer noch in seiner Wohnung in
Weitere Kostenlose Bücher