Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Uhly
Vom Netzwerk:
verlässt das Bad und sucht die Alben. Da sind sie, im hintersten Winkel des Schränkchens, auf dem der Fernseher steht. Alte Alben sind es, mit Fotos von längst vergessenen Verwandten. Die Menschen, die Hans sieht, hatten sich für die Ewigkeit hingestellt und -gesetzt, sie wollten, dass ihr Wesen für alle Zeit sichtbar würde. Doch bei diesem Versuch waren sie bloß übertrieben ernst, und jetzt wirken sie ein wenig wie Kinder, wenn sie vor Erwachsenen etwas aufsagen müssen.
    Hans kennt alle Fotos von früher und die meisten Namen auch, aber es ist mehr als dreißig Jahre her, dass er sie zum letzten Mal angeschaut hat. Er hat diese Alben durch sein Leben geschleppt, ohne sich zu fragen, welchen Zweck sie erfüllen. Wann war das letzte Mal?, fragt er sich und weiß es noch genau: Als er Karin kennen lernte und sich in sie verliebte, da trafen auch ihre beiden Albensammlungen aufeinander. Eines Abends saßen sie gemeinsam in seiner Studentenbude und zeigten sie sich gegenseitig. Da sah Hans zum ersten Mal den Unterschied zwischen ihren Kulturen, er sah Schnappschüsse von Menschen aus der Jahrhundertwende, die mit dem Voyeur hinter der Kamera gespielt oder ihn einfach ignoriert haben mussten, verschwommenes Lachen, laufende Kinder, Menschen in Bewegung, und er zeigte Arbeiter, Bauern und kleine Angestellte in Sonntagskleidung mit hohen Hüten und Schürzen vor den Röcken, die erstarrt waren, noch bevor das Foto sie für die Ewigkeit einfror. Hans ist nur ein Jahr älter als Karin, aber damals hatte er das Gefühl, dass er ihr eine ganze Generation hinterherhinkte. Seitdem wollte er die Alben, die ihm einst so wichtig waren, nicht mehr sehen. Jetzt sitzt er am Tisch und schaut sie sich an wie eine Geschichte, deren Ende er schon kennt. Aber dieses Ende zögert er hinaus, denn er will besser verstehen, wie die Geschichte dorthin gelangt. Und welche Geschichte ist es denn überhaupt?, fragt er sich. Ist es die Geschichte kleiner Leute, die vom Land in die Stadt gehen und dort ihre Wurzeln verlieren? Ist es die Geschichte kleiner Leute, die große Leute werden wollen und es nicht schaffen? Die Geschichte einer Familie, die langsam auseinanderbricht? Er blättert weiter.
    Die Goldenen Zwanziger haben nicht auf seine Familie abgefärbt, nicht einmal die Mode. Er blättert weiter.
    Nach dem Ersten folgt der Zweite Weltkrieg. Aber die Fotos zeigen nichts davon. Es gibt eine Pause, dann geht es weiter, bessere Qualität, anderes Format, Anfang der fünfziger Jahre, immer noch schwarz-weiß. Die Ränder wollen jetzt nicht mehr Gemälderahmen sein, sie sind nicht gewellt, sondern gerade geschnitten, die Fotos sind größer, man erkennt die Gesichter besser. Jetzt erst gibt es Schnappschüsse, das ist sogar mehr als eine Generation später, das sind fast zwei Generationen, denkt Hans. Und dann sieht er es: Die Trauer in den Augen seines Spiegelbildes, sie ist da, in den Gesichtern seiner Eltern, sie springt ihn an mit der Wucht einer Offenbarung, sie hat dieselbe Farbe wie seine eigene Trauer.
    Das Jahr 1953. Seine Mutter mit einem Baby im Arm. Sie lächelt müde in die Kamera, sie ist glücklich, das Baby schläft, es ist erst ein paar Tage alt. Aber im Glück der Mutter sieht Hans dieselbe Trauer, ihr Glück steht auf traurigem Grund, Wie lange hält ein solches Glück?, fragt Hans sich. Und er sieht mehr: Er sieht, dass sie nichts wissen von ihrer Trauer, dass sie an ihr Glück glauben wie Blinde, die nicht ahnen, dass es das Sehen gibt. Hans lehnt sich zurück. Was für ein seltsamer Tag, denkt er. Ich habe die Trauer entdeckt. Und jetzt?
    Er blättert weiter, die Fotos werden farbig, Hans taucht ein in jenen Teil der Geschichte, den er auf zwei Arten und Weisen kennt: einmal als Bildergalerie im Album und einmal als ein Durcheinander aus Gefühlen und kurzen oder längeren Sequenzen, die alle zusammen sein Leben sind. Aber jetzt ist seine eigene Trauer wie ein Detektor, den er nach Belieben einsetzen kann. Er sucht und findet sie in den Bildern, und die Bilder verknüpfen sich mit dem Durcheinander in seinem Kopf und ergeben eine neue Geschichte seines Lebens.
    Das Jahr 1962. Da ist es, das Foto, das ihm eingefallen ist. Der kleine Hans steht am Geländer eines langen Außenflurs und schaut in die Kamera, weil sein Vater ihn angeherrscht hat, es zu tun, denn er will ein Foto vom Enkel an seine Eltern schicken. Es ist Sommer, Hans trägt eine kurze, blaue Hose und ein blaues Hemd mit kurzen Ärmeln. Seine Beine sind

Weitere Kostenlose Bücher