Glückskind (German Edition)
ist. Er tritt an das Fenster heran und schaut nach unten. Das fällt ihm nicht leicht, denn er hat Höhenangst. Aber er hat sich nicht geirrt, dort unten steht einer der typischen Müllwagen und blockiert die rechte Spur der großen Straße. Hinter dem Müllauto hat sich eine Schlange blinkender Autos gebildet, aber die linke Spur ist voll, der Verkehr fließt zäh. Männer in orangefarbenen Overalls ziehen eine bereits geleerte Tonne zu ihrem Platz zurück. Das Geräusch der rollenden Tonne wummert an den Außenwänden der umstehenden Gebäude hoch bis zu Hans. Von hier oben sieht alles sehr klein aus. Hans spürt bereits den bekannten Schwindel, den die Höhe verursacht, und wendet sich ab. Er betritt seine Wohnung und geht in die Küche. Er wirft einen Blick in den Kühlschrank, um zu sehen, was er einkaufen muss. Er schaut in dem Hängeregal an der Wand nach. Das kann ich mir nicht merken, denkt er und sucht einen Zettel und einen Stift. Er setzt sich an den Küchentisch und listet Lebensmittel und andere Dinge auf. Anschließend nimmt er den grünen, durchscheinenden Beutel aus dem Eimer, zurrt die Plastikschnüre zu, macht einen Knoten hinein und tritt wieder auf den Flur hinaus. So mühelos hat er sich schon lange nicht mehr organisiert. Das fühlt sich gut an. Ich habe die Kontrolle über mein Leben, denkt Hans. Er geht zum Fahrstuhl, ein alter Mann mit einem alten Mantel, alten Schuhen und einer Mülltüte in der Hand. Der Fahrstuhl kommt, ein Unbekannter steht darin und grüßt flüchtig, wirft einen kurzen Blick auf den Müllbeutel. Hans grüßt zurück und steigt hinzu, sie fahren gemeinsam in die Tiefe.
Alles ganz normal, denkt Hans und denkt daran, wie er vor fünf Tagen als hoffnungsloser Fall im Fahrstuhl stand und nicht wusste, wer mehr stinkt, er oder die Mülltüten. Sie kommen im Erdgeschoss an, der Unbekannte hält ihm die Tür auf, Hans lächelt ihn an und bedankt sich und hat nicht einmal Angst vor dem anderen. Jetzt schnell die Mülltüte loswerden, denkt er und durchquert den Hausflur. Sein Blick wandert wie gewohnt zu den Briefkästen, aber Hans wehrt sich heute nicht gegen diesen Zwang, er will nicht mehr vergessen, er will sich erinnern, und: ja, er gibt es zu, er wartet noch immer auf Post von Hanna und Rolf, er wird sein ganzes Leben lang warten, er ist ein Vater. Fast hatte er es vergessen. Dann bleibt er stehen. Im Sichtfenster seines Briefkastens schimmert es weiß. Ein Brief, denkt er und bekämpft sofort die aufkommende Hoffnung. Er denkt: Bestimmt Werbung. Er ärgert sich darüber, dass die Werbung oft als Info-Post getarnt in weißen Briefumschlägen daherkommt. Hans nähert sich dem Briefkasten, kramt seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und schließt ihn auf. Man glaubt, es ist etwas Persönliches, denkt er grimmig, und dann ist es von irgendeinem Unternehmen, das einem Geld aus der Tasche ziehen will. Der Ärger ist gut, er balanciert die Hoffnung aus. Hans zieht den Umschlag heraus. Es ist keine Werbung, sondern ein dünner Brief von der Bundesagentur für Arbeit. Hans seufzt. Der Weiterbewilligungsantrag, denkt er. Den hatte ich ganz vergessen. Vor seinem inneren Auge taucht kurz Frau Mohns Gesicht auf. Diesmal hat sie ja schnell reagiert, denkt Hans. Am Ende mache ich sogar mit ihr meinen Frieden. Er steckt den Brief in die Manteltasche und verlässt das Haus. Draußen steht der Unbekannte aus dem Fahrstuhl mit ein paar anderen Unbekannten zusammen und unterhält sich. Um sie herum auf dem Bürgersteig und auf dem Vorplatz stehen mehrere Autos, einige davon sind Polizeiwagen. Das Müllauto gibt keinen Laut mehr von sich, die Männer in den orangefarbenen Overalls stehen unschlüssig herum und stecken sich Zigaretten an. Hans bleibt abrupt stehen. Eben sah es hier doch noch anders aus, denkt er. Blicke richten sich auf ihn. Plötzlich versteht Hans. Felizia. Marie M. Er spürt, wie ihm heiß wird. Mit einem Mal fühlt er sich wie ein gesuchter Verbrecher, der jeden Augenblick entdeckt werden wird. Er zwingt sich, langsam nach links zu den Mülltonnen zu gehen. Aber dort macht sich ein Dutzend Männer und Frauen in Polizeiuniformen daran, die Mülltonnen auszuräumen. Sie haben große Arbeitshandschuhe an und lange, weiße Plastikschürzen, die ihre Uniformen vor dem Schmutz schützen sollen. Um die Tonnen herum bilden sich kleine Berge aus Mülltüten. Hans bleibt erneut stehen. Die Angst lähmt ihn.
Sie müssen doch denken, dass er Felizia gefunden hat.
Sie müssen
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