Glückskind (German Edition)
es schon eigenartig ist, dass sie noch nie bei mir im Laden waren.« Da muss Hans lachen. Er sagt nicht, was er denkt, nämlich, dass es vielleicht Menschen gibt, denen Herr Wenzel nichts verkaufen kann, weil er nichts hat, was sie haben wollen. Er sagt es nicht, weil es wie ein Triumph über Herrn Wenzel gewesen wäre und es sich für Hans anfühlt, als würde er einen allzu leichten Sieg erringen, hinter dem sich eine Niederlage verbirgt. Außerdem will er ihn mögen, den Herrn Wenzel, und ihm vertrauen. Deshalb sagt er: »Vielleicht kommen sie ja jetzt.« Herr Wenzel nickt und lächelt Hans an, als habe der ihn trösten wollen, obwohl das gar nicht notwendig ist. Dann verabschieden sich diese beiden Männer, die es so schwer miteinander haben, voneinander. Der eine betritt seine Wohnung, der andere geht zum Fahrstuhl.
Hans’ Wohnung ist dunkel. Er macht Licht. Sie ist so leer, denkt er. Obwohl er doch Felizia dabeihat. Das macht ihn traurig. Dann denkt er: Das kommt nur von den vielen Menschen, denen du heute begegnet bist. Das gibt sich wieder. Felizia wird wach. Auch sie ist nun in einer leeren Wohnung angekommen, sie, die eine Mutter und einen Vater und zwei Geschwister hatte, bevor sie plötzlich ganz allein war. Und echte Großeltern, denkt Hans. Er fühlt sich wie jemand, der etwas Wertvolles erschlichen hat, der unrechtmäßige Inhaber eines Amtes, ein Hochstapler, ein Usurpator. Ganz elend ist ihm zu Mute. Er lehnt sich gegen die Tür, mit Felizia auf dem Arm, und schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, sieht Felizia ihn an. Hans ist überrascht von ihrem geraden Blick, aber diesmal wird er nicht unsicher. Diesmal schaut er zurück. Zum ersten Mal überhaupt schauen Hans und Felizia einander wirklich in die Augen. Hans mit seiner Trauer, Felizia mit ihrer grenzenlosen Sehkraft, die durch alle Schleier und Fassaden hindurchschaut. Minutenlang schauen sie einander an, und Hans tut es mit dem Wunsch, sie möge in sein Herz schauen und ihn sehen, ihn wirklich sehen. Plötzlich wendet Felizia ihren Blick ab, einfach so, als habe sie genug gesehen. Sie schaut sich die Diele an, die Wände, die Decke, die nackte Glühbirne, die dort hängt, weil Hans es seit zehn Jahren nicht geschafft hat, eine Lampe zu kaufen.
Hans schaut sie einfach weiter an. Er hat nichts vor, es gibt nichts, was ihn mehr interessieren würde als dieses Mädchen, das so viele Dinge zum ersten Mal erblickt und dabei wirkt, als wohne in ihm jemand Uraltes, der alles schon kennt. Weder Hanna noch Rolf hatten solch eine Wirkung auf ihn. Vielleicht habe ich nicht genau genug hingesehen, denkt er und stößt sich von der Tür ab. »Ich war wohl zu sehr damit beschäftigt, alle unter Kontrolle zu halten«, murmelt er und lächelt Felizia traurig an. Er legt sie auf den Küchentisch, hängt seinen Mantel in die Diele, kommt zurück, setzt Wasser auf und bereitet eine Flasche zu. Er wechselt Felizia die Windel, nimmt sich vor, sie bald einmal zu baden. Draußen dämmert es, das Essen bei den Tarsis hat lange gedauert, jetzt geht dieser Tag zu Ende. Ein seltsamer Tag. Hans setzt sich an den Tisch und füttert Felizia, die bereitwillig ihren kleinen, zahnlosen Mund öffnet, ein paar Glückslaute von sich gibt und verstummt, als sie das Mundstück der Flasche ansaugt. Hans schaut ihr zu und lässt die Gedanken schweifen. Er denkt an seine Begegnung mit Anne, die verschwunden war aus seinem Leben und aus seinem Gedächtnis. Als hätte es sie nie gegeben. Und plötzlich steht sie vor mir, denkt Hans. Erst jetzt spürt er, dass Annes Vorwürfe ihn gekränkt haben. »Ich hätte doch nichts anders machen können«, sagt er leise. Damals war Anne wie eine Konkurrentin für ihn gewesen. Ihm vertraute Hanna ja nichts mehr an, nur noch mit Karin und mit ihrer besten Freundin sprach sie. Aber er weiß auch, warum das so war. Langsam nickt er vor sich hin. »Du hast es dir selbst verscherzt«, murmelt er. Vielleicht, denkt er, habe ich sie kontrolliert, um nicht ohnmächtig zu sein. Er denkt an Rolf. Rolf war sein Soldat, sein Jünger, alles, was Papa sagte, glaubte Rolf und befolgte Rolf. Lange Zeit stellte Rolf sich sogar gegen seine eigene Schwester. Und ich, denkt Hans. Ich habe ihn insgeheim für weniger klug gehalten als Hanna, die aufbegehrte, die ich nie kontrollieren konnte, die von klein auf tat, was sie wollte, und die nur ihre Mutter als höhere Gewalt anerkannte. Er fühlt wieder den Schmerz der Unverzeihlichkeit, die Gewissensbisse. Hätte
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