Glückskind (German Edition)
er doch alles anders gemacht! Wäre er doch ein einfacher Mensch gewesen. »Warum war ich überhaupt so, wie ich war?«, fragt er sich laut. Felizia zuckt ein wenig zusammen, sie ist dabei, einzuschlafen, ihre Augen öffnen sich ein wenig, dann gehen die Lider wieder zu, ihre Lippen entlassen das Mundstück der Flasche aus ihrer Umklammerung und ihr Atem wird langsamer, tiefer. Hans wartet noch ein wenig, bis der Schlaf sich über das ganze Kind ausgebreitet hat. Dann trägt er Felizia in sein Schlafzimmer, wo keine kitschige Mädchenwiege wartet, aber ein Bett. Da liegt sie und schläft. Allein. Was soll ich tun, denkt Hans, als ihm die echten Großeltern wieder einfallen. Es muss sie geben, sie müssen ihre Enkeltochter vermissen, so wie Hans seine Enkelkinder vermisst, die es vielleicht gar nicht gibt. Aber hat er sie denn so sehr vermisst, dass er etwas dagegen getan hätte? Hans schüttelt den Kopf: Nein, hast du nicht. Du hättest dich irgendwann selbst in Staub verwandelt in dieser verstaubten Wohnung, und eines Tages wäre Herr Balci, der Hausverwalter, mit seinem Universalschlüssel hereingekommen und hätte nichts mehr vorgefunden als Staub und Müll und einen flimmernden Fernseher. Sei ehrlich, denkt Hans und fixiert Felizia, die jetzt vielleicht von ihren Geschwistern träumt und von ihrer Mutter, Eva M., Frau ohne Gesicht mit Zeitung auf dem Kopf, sei ehrlich: Ohne Felizia würdest du deine Enkelkinder nicht vermissen.
Leise verlässt Hans das Schlafzimmer. Er muss jetzt fernsehen, er will nicht mehr denken, es ist genug für heute, er fühlt sich, als habe er zwanzig Jahre in drei Tagen aufholen müssen. Zwanzig tote Jahre in drei Tagen Leben.
Im Fernsehen läuft eine Dokumentation über Kinderarbeit in Pakistan. Die Stimme aus dem Off zieht Vergleiche zu Deutschland. Sie füllt Hans mit Zahlen und Fakten, die Bilder zeigen zierliche pakistanische Jungen und Mädchen, die schweren körperlichen Arbeiten nachgehen, weil ihre Familien das Geld zum Leben brauchen. Plötzlich wird Hans bewusst, dass er seit vielen Jahren seine Zeit damit verbringt, sich schlechte Nachrichten anzuschauen. Jetzt kommt es ihm vor wie eine Selbstkasteiung. Oder vielleicht, denkt er, ist es ein Umweg, den ich gehen muss, um etwas zu fühlen, wenn ich nichts mehr fühlen kann? Ein Ersatzschmerz, wenn man den eigenen Schmerz nicht erträgt? Ein ausschaltbarer und deshalb ein aushaltbarer Schmerz, denkt er. Er seufzt. In letzter Zeit habe ich den Überblick über mich selbst verloren, denkt er. Dann schaltet er um und schaut einen Film, eine Action-Komödie.
Eigentlich wartet Hans nur darauf, dass die Zeit vergeht, damit er endlich ins Bett gehen kann. So hat er es vor Felizia gehalten, Tag für Tag, Jahr für Jahr, und so tut er es jetzt zum ersten Mal wieder. Es fällt ihm auf und es stärkt seine Trauer, doch in dieser Trauer liegt kein Aufbegehren, keine Kraft zur Veränderung. Sie ist eine endlose, allgegenwärtige Trauer, eine Trauer, die wie eine Farbe erscheint, die Hans immer übersehen hat, obwohl sie doch auf jedem Ding, auf jeder Handlung, auf jedem Gedanken und sogar auf jedem Gefühl vorhanden ist. Hans schaltet den Fernseher aus und begibt sich ins Badezimmer. Er schaltet das Licht ein und sieht sich selbst im Spiegel. Auf seinem Kopf und in seinem Gesicht liegt erneut ein grauer Schimmer. Nach nur einem Tag. Er stützt sich mit beiden Händen auf dem Rand des Waschbeckens ab und betrachtet sich. Er schaut sich in die Augen, ohne eine Fratze zu ziehen, ohne einen Gedanken über sich zu denken. Er sucht. Er sucht die Trauer. Was nützt es, wenn Felizia alles sieht und er selbst nicht? Ich muss mehr sehen als Felizia, sonst ist sie allein mit ihrem Wissen, und wer kann ihr dann helfen? Sie kann doch nicht einmal sagen, was sie weiß! Sein Spiegelbild erinnert Hans an ein Foto. Es entstand, als er noch klein war, vielleicht neun Jahre alt. Sein Vater hatte es gemacht, daran erinnert er sich noch. Er steht auf einem langen Außenflur, der zu ihrer Wohnung führte, vorbei an drei oder vier anderen Wohnungstüren. Es muss sich in einem der Alben befinden, die Hans seinen Eltern entwendete, als er mit neunzehn Jahren von zu Hause auszog. Warum tut man das?, fragt Hans sich und sieht seinem Spiegelbild beim Nachdenken zu. »Vielleicht«, sagt er nach einer Weile, »weil man auf diese Weise der eigenen Geschichte nicht mehr ganz so ausgeliefert ist?« Sein Spiegelbild nickt, aber es sieht nicht überzeugt aus.
Hans
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