Glückskind (German Edition)
ihm doch ansehen, dass er schuldig ist.
Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Bevor er noch überlegen kann, was er nun tun soll, ertönt hinter ihm eine Stimme. »Sie können Ihre Tüte einfach zu den anderen stellen. Wir kümmern uns darum.« Er wendet sich um. Hinter ihm steht der Unbekannte aus dem Fahrstuhl. Er ist ein junger, hochgewachsener Mann mit kurzem, dunklem Haar. Seinen dünnen, schwarzen Mantel trägt er offen.
Er sagt: »Wohnen Sie in diesem Haus?«
Hans nickt stumm.
Der Mann streckt ihm die Hand entgegen. Er sagt: »Mein Name ist Lindner, Kriminalpolizei. Wir suchen nach einem Baby, das vermutlich in eine dieser Mülltonnen geworfen wurde.« Er weist an Hans vorbei auf die Tonnen, die gerade von den Beamten ausgeleert werden. Hans dreht sich um. Er könnte jetzt sagen: Es war diese Tonne dort, die mittlere auf der rechten Seite. Er könnte sagen, dass sie schon am Montag ziemlich voll war, weil es viel zu wenige Tonnen für das große Haus gibt, seit Jahren ein Ärgernis, Aber genau deshalb lag die Kleine ganz oben und ich habe sie gesehen, kommen Sie mit, sie ist bei meiner Nachbarin. Hans hat das Gefühl, dass es nur noch eine dünne Haut zwischen ihm und der Wahrheit gibt, mit Worten kann er sie durchstoßen, sie wird sich auflösen und alles wird anders sein. Aber er sagt nichts. Er nickt langsam und sagt: »Ja, ich habe davon in der Zeitung gelesen. Aber dass die Kleine hier sein soll …«
»Das zumindest behauptet die Mutter«, erwidert Herr Lindner. Er zieht eine Schachtel Zigaretten aus der einen und ein Feuerzeug aus der anderen Manteltasche. »Auch eine?«, sagt er und hält Hans die geöffnete Schachtel hin.
»Nein danke«, sagt Hans, »ich rauche nicht mehr, seit …«, er stockt. Seit ich Felizia gefunden habe, denkt er. Herr Lindner guckt ihn fragend an. Hans sagt: »… seit fünf Tagen, um genau zu sein.« Er spürt, wie seine Beine zittern. Herr Lindner lacht kurz auf. Er sagt: »Oho! Dann sind Sie ja gewissermaßen auf Turkey!« Er lacht noch einmal und zündet sich seine Zigarette an.
Hans sagt: »Ach nein, es geht ganz leicht im Moment.« Herr Lindner nickt geistesabwesend. Dann sagt er: »Und Ihnen ist nichts aufgefallen? Wann haben Sie denn das letzte Mal Müll nach unten gebracht?« Hans sagt die Wahrheit. Der andere zieht die Augenbrauen hoch. Am Montag also. Das war doch der besagte Tag, scheint er zu denken.
Er sagt: »Und in welche Tonne?«
Hans schluckt. Er spürt, dass er die Wahrheit sagen muss, er sieht, wie akribisch die Polizisten den Müll auseinandernehmen. Plötzlich denkt er an die vielen Windeln, die sich in dem Müllbeutel befinden, den er in der Hand hält. Windeln und Milchpulverbeutel für ein ganz kleines Baby und Verpackungen von Babystramplern, Babybodys, Babykleidern, Babyschnullern, Baby-alles-Mögliche. Ach, du Scheiße!, denkt er. Wenn der jetzt einen Blick nach unten wirft! Hans’ Müllbeutel ist durchscheinend, man kann die Umrisse der Gegenstände, die sich darin befinden, erkennen. Er schaut in Richtung der Mülltonnen. Herr Lindner steht neben ihm und wartet.
Hans sagt: »Ich glaube, es war die mittlere auf der rechten Seite. Ja, die war’s.«
»Und da ist ihnen nichts aufgefallen? Etwas, das vielleicht aussah wie eine große Puppe?«
Hans schaut ihn erschrocken an. Herr Lindner zuckt mit den Achseln. »Wir sind auf jeden Anhaltspunkt angewiesen.«
Hans schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er. Am liebsten würde er seinen Müllbeutel wieder mit nach oben nehmen. Aber das wäre auffällig. Er kann gar nichts tun. Herr Lindner ist offenbar zufrieden. Er sagt: »Geben Sie her, ich bring’s für Sie hin.« Er streckt die Hand aus, Hans muss ihm den Müllbeutel geben. Mit zitternden Händen überreicht er ihm den Beutel, da ist sie, die Haut, sie ist aus grünem Plastik, ein Polizeiblick kann sie durchstoßen und alles wird anders sein.
Herr Lindner nimmt den Beutel entgegen, dann lächelt er Hans freundlich an und sagt: »Und vielen Dank für Ihre Auskunft, Herr …?«
Hans sagt ihm seinen Namen, Herr Lindner wiederholt ihn und wiederholt den Dank. Dann wendet er sich von Hans ab und schlendert zu den Mülltonnen. Hans hört ihn sagen: »Wo soll ich den hinstellen? Er ist gerade gebracht worden.« Eine Frau weist auf einen Haufen, Herr Lindner stellt den Beutel ab und beachtet ihn nicht mehr. Mit klopfendem Herzen macht Hans sich auf den Weg. Er muss zwischen den Polizeiautos und den Polizeibeamten hindurchgehen, um zum Supermarkt zu
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