Glückskind (German Edition)
sich ausgedacht hatte, eine Lüge, die die Ordnung der Welt hätte aufrechterhalten können. Aber so? Einfach nicht erkannt werden und davonkommen, das erscheint ihm wie ein Betrug des Schicksals.
Hans verlässt den Supermarkt, bepackt mit drei schweren Tüten, deren Gewicht er sofort im Rücken spürt. Er schlägt den Weg nach Hause ein und lässt alles hinter sich, was gerade eben geschehen ist, als hätten die automatischen Türen einen Schnitt gemacht, als sie sich hinter ihm schlossen. Denn vor ihm liegt eine viel größere Gefahr. Hans würde gern ganz langsam gehen, um viel Zeit zu haben auf dem kurzen Heimweg, aber es geht nicht, in seinem Kopf hat Herr Lindner bereits das dritte Stockwerk erreicht, und auch der Gedanke, dass in Wirklichkeit bestimmt wieder etwas ganz anderes geschieht, womit er gar nicht rechnet, beruhigt ihn nicht. Wenn ich jetzt erwischt werde, denkt Hans im Gehen, dann bin ich kein Retter mehr, sondern nur noch jemand, der gelogen hat, mein Egoismus wird vor der ganzen Welt dastehen wie etwas Nacktes, Hässliches. Hans schüttelt sich, fast ekelt es ihn vor sich selbst. Felizia jetzt noch zu verbergen, erscheint ihm beinahe unmöglich.
Als er sich dem Wohnhaus nähert, sieht er, dass die dunkelblaue Limousine fort ist. Aber die anderen Autos stehen noch dort, und auch das Müllauto ist noch da. Inzwischen sind die Müllmänner damit beschäftigt, der Polizei dabei zu helfen, den Inhalt des Müllautos zu durchsuchen. Die große hintere Klappe ist geöffnet, eine Reihe von Tüten liegt auf dem Boden und draußen stehen Beamte und nehmen weitere Tüten in Empfang. In der Nähe des Eingangs steht Herr Lindner und unterhält sich noch immer mit den anderen Unbekannten. Die Zahl der Schaulustigen hat weiter zugenommen, inzwischen ist es schon eine Menschenmenge, ein Kamerateam ist auch darunter. Hans eilt vorbei und wendet den Kopf ab, damit die Kamera ihn nicht filmen kann. Er betritt den Hausflur, ruft den Fahrstuhl und fährt nach oben.
Als er im fünften Stock ankommt und den Gang betritt, der zu seiner Wohnung führt, steht Frau Tarsi mit Felizia im Arm an einem der großen Fenster und schaut nach unten. Auch Felizia schaut nach unten. Hans bleibt stehen, Was für ein Anblick, denkt er. Frau Tarsi hat ihn bemerkt und wendet sich ihm zu. Sie lächelt ihn an, aber sie sieht besorgt aus, das kann Hans sehen. Felizia entdeckt ihn und freut sich. Sie hat jetzt ihn und zweifelt nicht daran. Wenn er sie wieder zurückgibt, wenn er diesen ganzen Schwindel auffliegen lässt und Felizia wieder zu Marie M. wird, die zu Eva M. gehört, dann wird sie schon wieder jemanden verloren haben.
Herr Wenzel hat recht, denkt Hans, sie wird in ein Waisenhaus kommen, denn Eva M. wird ins Gefängnis gehen, und Hans wird eine Anzeige bekommen, wer weiß, was dann mit ihm geschieht. Aber das ist nicht so wichtig, wichtig ist allein, dass Felizia erneut ganz allein sein wird. Frau Tarsi kommt ihm langsam entgegen, er stellt die Tüten ab und empfängt sein Kind, sein Kind, sein Kind! Als er sie an sich drückt, hat er mit einem Mal die klare Gewissheit, dass es noch ein anderes Recht gibt, eines, das verborgener ist, aber umso mächtiger. Er weiß nicht, wie er dieses Recht nennen soll, doch es hat etwas damit zu tun, dass er, Hans, nicht falsch gehandelt hat, dass er recht hat, wenn er der Polizei misstraut und dem Vater von Felizia und ihren echten Großeltern. Denn auch sie hätten verhindern können, dass es so weit gekommen ist, aber sie haben nichts getan, sie waren blind oder haben weggeschaut, als Eva M. immer tiefer in ihre Verzweiflung geraten ist, sie haben ihr keinen Ausweg gezeigt, waren nicht für sie da. Hans drückt Felizia an sich und denkt: Ich bin ein Fremder, aber ich bin dein Fremder, kleines Mädchen, ganz allein dein Fremder.
Frau Tarsi seufzt und sagt: »Die Polizei war da.«
Hans schaut sie erschrocken an.
Sie sagt: »Ich habe ihnen zusammen mit Felizia die Tür geöffnet.« Sie reißt die Augen auf. »Stellen Sie sich das einmal vor!«
Hans stellt es sich vor. Er sagt: »Und dann?«
Sie wirft die Arme hoch. Sie ruft: »Was sollte ich tun? Ich habe gar nichts gesagt! Ich habe mit dem Baby auf dem Arm gesagt, dass ich nichts von dem Baby weiß, das ich auf dem Arm habe!« Sie schlägt sich die Hand vor die Stirn und schüttelt den Kopf. Plötzlich lacht sie. Sie sagt: »Jetzt stecken wir wirklich unter einer Decke, Herr Nachbar, unter einer Decke!« Sie muss lachen, um sich zu
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