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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Uhly
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kommen. Sein Blick fällt auf die andere Straßenseite. Dort steht Herr Wenzel zusammen mit einigen Passanten vor seinem Lotto-Toto-Geschäft und schaut herüber. In diesem Augenblick wird Hans bewusst, dass er sich strafbar gemacht hat. Herr Wenzel winkt ihm zu und Hans winkt zurück. Er sieht die Anspannung im Gesicht des alten Mannes. Ich will jetzt nicht mit dir sprechen, denkt er und schickt sich an, die Straße entlangzugehen. Das letzte Auto, an dem er vorbeimuss, ist kein Polizeiauto. Es ist eine dunkelblaue Limousine. Im Fond sitzt eine junge Frau. Als Hans sich dem Fahrzeug nähert, wendet sie ihm das Gesicht zu. Hans hat dieses Gesicht noch nie gesehen, aber er weiß sofort, wer die Frau ist. Er wendet seinen Blick ab und geht weiter, einfach weiter, immer geradeaus, als wäre nichts geschehen, aber das stimmt nicht und er weiß es, aber das hilft ihm nicht weiter. Hans geht automatisch, seine Beine bewegen sich mechanisch, nur fort. Fort vom Tatort, denkt er. Und ich bin der Täter, nicht diese Frau. Ich! Nach ein paar hundert Metern ist er völlig außer Atem. Er muss stehen bleiben. Wenn er die Augen schließt, schaut ihn das Gesicht der jungen Frau immer noch an. Hans hat noch nie ein solches Gesicht gesehen. Seine eigene Trauer erscheint ihm mit einem Mal bedeutungslos. Er beginnt zu weinen. Er blickt zurück, die dunkelblaue Limousine ist immer noch zu sehen. Links daneben steht das Haus, in dem er wohnt. Fünf Stockwerke über der Limousine, aus der Eva M. und ihre todtraurigen Augen ihn angeschaut haben, liegt Marie M. und wird von Fremden betreut. Wir sind diese Fremden, denkt Hans, nicht die anderen, wir sind es! Er wendet sich ab und stolpert weiter, nur fort.
    Er vergisst alle Vorsichtsmaßnahmen und betritt den Supermarkt, den er bisher gemieden hat. Er betritt ihn wie jemand, der von der Bildfläche verschwinden will, wie ein Flüchtling, der seinen Verfolgern entrinnen muss. Aber Hans’ Verfolger sitzen in seinem Kopf, es sind seine Gedanken, die auf ihn einprasseln wie Hagel. Er fühlt sich erschöpft, zu Tode erschöpft, am liebsten würde er jetzt fortgehen und nie wiederkommen. Am liebsten würde er jetzt aufhören zu sein.
    Aber dann fällt ihm Felizia ein, die von alledem nichts weiß, Felizia, die ahnungslos und voller Vertrauen in Frau Tarsis Armen liegt oder in der pinkfarbenen kitschigen Wiege und sich immer noch erholt vom ersten großen Schock ihres kleinen Lebens.
    Da begreift Hans, dass er nicht weglaufen darf. Mit dem Ärmel des Mantels wischt er sich das verheulte Gesicht trocken. Er zieht einen Einkaufswagen aus der Wagenschlange. Aus einer Hosentasche kramt er seine Einkaufsliste hervor. Er schiebt alle Gedanken beiseite, alle Ängste und Nöte, und beginnt, seinen Einkauf abzuarbeiten. Die Konzentration auf die Liste und die Verkaufsregale beruhigt ihn. Hoffentlich hat Herr Wenzel nicht beschlossen, die Straße zu überqueren und der Polizei alles zu erzählen, denkt Hans. Er kauft weiter ein. Als er Milchkartons in seinen Wagen legt, denkt er plötzlich: Sie werden kein Baby finden. Und was dann? Vor seinem inneren Auge sieht er Herrn Lindner durch das ganze Wohnhaus gehen, von Stockwerk zu Stockwerk. Überall klingelt er und fragt die Leute aus. Und wenn er zu den Tarsis kommt, denkt Hans. Werden sie lügen? Frau Tarsi ist eine pensionierte Beamtin, sie ist Deutsche, denkt Hans, sie kann doch nicht einfach andere Beamte anlügen. Er versucht sich mit seinem Einkauf zu beeilen, um vor Herrn Lindner im fünften Stock zu sein, aber es fällt ihm schwer, sich zu konzentrieren.
    Endlich hat er alles, der Einkaufswagen ist ziemlich voll, Hans hat eingekauft wie jemand, der sich auf eine Belagerung vorbereitet. Nicht zwei Liter Milch, sondern vier, nicht eine Packung Milchpulver, sondern drei, zwei große Packungen Windeln, eine allein reicht für eine ganze Woche, und so weiter: drei Butterstücke, viel zu viel Brot, mehrere Packungen Spaghetti, Tomatensaucen, kiloweise Äpfel, Trauben, anderes Obst, Aufstrich aller Art. Als er zur Kasse geht, sieht er, dass dort Heike sitzt. »Oh nein!«, murmelt er entsetzt. In seinem Körper breitet sich die Verzweiflung aus wie ein Lauffeuer. Doch es hilft alles nichts, er muss es durchziehen, schon allein weil er nicht aufgeben, nicht abbrechen, nicht scheitern will.
    Eine Lüge muss her, schnell, denn es stehen nur zwei Kunden vor ihm in der Schlange und Heike hat ihn schon entdeckt. Sie lässt sich nichts anmerken, bestimmt weil sie

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