Glückskind (German Edition)
immer noch, Felizia steckt jetzt so im Wickeltuch, dass sie nach vorn schauen kann, Hans lässt seinen Mantel offen und spannt den Regenschirm auf. Sie gehen zurück nach Australien, und jetzt sieht Felizia doch die Kängurus, es gibt für alles eine zweite Chance, denkt Hans. Neuseeland findet er trotzdem nicht.
Den ganzen verregneten Tag verbringen sie im Zoo. Plötzlich wird das Licht fahl und Hans weiß, dass er jetzt besser nach Hause fährt. Die Brücke über den Fluss sieht Felizia nicht, denn sie ist wieder eingeschlafen, dieser Tag war anstrengend, so viele Dinge hat Felizia gesehen, wenn sie jetzt stürbe, hätte sie doch einiges erlebt. Besonders aber die Begegnung mit dem Affen beschäftigt Hans auf der Rückfahrt. Noch nie hat er ein Tier so menschlich erlebt. Oder ist das Menschlichste am Menschen womöglich sein Tiersein? Jetzt, im Nachhinein, fühlt Hans eine tiefe Verbindung zu dem alten Gorilla, für die er keine Worte findet. Er lehnt sich zurück und schließt die Augen, die U-Bahn ist voller Menschen, die wissen, dass das Wochenende vorbei ist. Es war ein toller Sonntag, denkt Hans, ein echter Sonntag. Er öffnet die Augen. Niemand beachtet ihn, nur einige Blicke gleiten vorbei, berühren ihn kurz und lassen ihn wieder los. Er ist frei.
Als er zu Hause ankommt, geht er lieber die Treppe hinauf, denn draußen hat er beobachtet, dass einige Familien mit ihren Autos aus dem Wochenende zurückgekehrt sind. Sie sind in die Tiefgarage hineingefahren und werden bestimmt den Fahrstuhl nehmen. Im fünften Stock ist Hans außer Atem. Aber er hat es geschafft. Er steht in der Diele und die Welt mit ihren tausend Blicken ist draußen geblieben. Nur seine Familie ist hinter ihm durch die Tür geschlüpft und steht jetzt da und schaut ihn an, Hanna und Rolf und Karin, aber Karin ist unsichtbar wie auf dem Foto, sie schaut ihm aus ihrem Versteck heraus zu, sie geht aus ihrem Versteck heraus mit ins Schlafzimmer, wo Hans Felizia auswickelt, wo er ihr die Windeln wechselt, wo er sie in ihren weichen, warmen Schlafsack steckt und dann unter die Decke schiebt. Sie stehen da, Hans und seine Kinder und die versteckte Karin, und schauen auf Felizia herab, die ihre kleinen Arme über den Kopf streckt, weil sie so am liebsten schläft. Und dann gehen sie leise hinaus, durchqueren die Diele, betreten die Küche, öffnen den Kühlschrank, um nachzuschauen, was es an Essbarem gibt. Dann schälen sie Kartoffeln, das heißt, Hans schält und seine Kinder schauen zu, links und rechts von ihm sitzen sie, kein Wort sagen sie, und Hans schält und lässt sich beobachten, er wehrt sich nicht mehr dagegen, er muss nicht mehr so tun, als wären sie nicht da, er lässt sich beobachten und schält und schält, und als er nicht mehr schälen kann, weil keine Kartoffeln mehr übrig sind, lässt er die Hand sinken und sagt: »Ich vermisse euch«, und sagt: »so sehr, dass es immer schmerzt«, und sagt: »immer.« Und schweigt in den Raum hinein. Die versteckte Karin. Sie rächt sich an ihm, der so versteckt war, als sie noch zusammenlebten. So versteckt war er, dass er Verrat spielen musste mit Lena, der Frau des Nachbarn. Hans schlägt die flache Hand gegen seine Stirn, als er daran denkt, wie es war. Wie es war, in der Geheimhaltung zu leben und so zu tun, als wäre nichts, wie es war, den Tagesablauf so zu manipulieren, dass Lücken entstanden, in die sie hineinspringen konnten, er und Lena, denn in diesen Lücken standen Betten. Wie es war? »Schrecklich«, murmelt Hans, der gar nicht mehr verstehen kann, warum er tat, was er tat. Aber es musste sein, das weiß er genau, der Verrat war ein Zug, der auf Schienen fuhr, ein Zug ohne Bremsen, ein schwerer Güterzug mit verplombten Waggons, Hans weiß nicht, womit er beladen war, so genau sah er sich selbst nicht an, er weiß nur, dass er nicht am Steuer saß, dass er in einem der Waggons fuhr, er und Lena, gespiegelt an der Regenrinne ihres Koordinatensystems. Sie, die Hausfrau, die Morgen für Morgen mit ansah, wie ihre Nachbarin es schaffte, das Eigenheim zu verlassen und arbeiten zu gehen, während sie immer noch davon träumte, ihr Leben selbst zu bestimmen. Hans, der alternative Mann, der es geschafft hatte, seine Frau gehen zu lassen. Wie attraktiv! Hans lacht bitter auf. Dabei war ich nur Hans, der Mann, der Angst davor hatte, nicht Mann genug zu sein, um in der Welt zu bestehen, der Angst davor hatte, vor aller Welt als Schwächling dazustehen, wenn die furchtbare Wahrheit
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