Glückskind (German Edition)
hätte die Aussicht auf Regen seine Stimmung gedrückt. Doch jetzt denkt er, dass er vielleicht mit Felizia an die frische Luft kann, weil sonst niemand draußen herumläuft. Felizia ist wach. Sie strahlt ihn an, streckt ihre Arme nach ihm aus, das kann sie jetzt. Hans nimmt sie hoch. Er ist ausgeschlafen und fühlt sich seltsam unbeschwert, seltsam glücklich. Als gäbe es keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur ihn und dieses Kind. Als säße nicht genau jetzt Herr Wenzel in seinem Wohnzimmer und dächte über ein Bild von Eva M. nach, das er in der Zeitung gesehen hat, es ist schon ein paar Tage her, an dem ihm irgendetwas seltsam bekannt vorkommt. Als würde nicht genau jetzt Herr Balci, der Hausverwalter, auf der Toilette sitzend den Entschluss fassen, gleich morgen früh bei Hans vorbeizuschauen, um diesen Tagesordnungspunkt schon einmal hinter sich zu bringen. Als würde nicht genau jetzt Herr Lindner, der Kriminalbeamte, wie jeden Sonntag ausgiebig mit seiner Frau frühstücken und ihr erzählen, dass die Beweislage ausreicht, Eva M. auch ohne Maries Leichnam wegen Mordes zu verurteilen. Sie schauen hinaus auf die Terrasse ihres neuen Eigenheims und bedauern, dass es regnet. Herr Lindner beißt in ein Knäckebrot mit Käse, während seine Frau zu Bedenken gibt, dass Marie M. vielleicht noch lebt. Mit vollem Mund nickt Herr Lindner ihr zu und sagt: »Klar! Möglich ist das.« Und deshalb lassen sie das Wohnhaus, zu dem die Mülltonnen gehören, ja auch beobachten. Falls irgendetwas Auffälliges passiert. Aber dann erklärt er ihr, dass der Druck der Öffentlichkeit inzwischen sehr zugenommen hat. »Wir müssen Ergebnisse präsentieren, sonst steigt uns der Innenminister aufs Dach.« Deshalb muss eine Verurteilung her. »Und sie hat es doch zugegeben!«, wird er etwas gereizt hinzufügen. Seine Frau wird nicht auf den Gedanken kommen, dass seine heftige Reaktion gar nichts mit ihr zu tun hat. Sie wird gekränkt schweigen und es später vergessen.
Von alldem weiß Hans nichts. Doch was er weiß und was er nicht weiß – das ist heute Morgen eins. Es kümmert ihn nicht. Nicht einmal seine ferne, verlorene Familie kümmert ihn, und das fühlt sich gut an, sehr gut sogar. Hans macht ausgiebig Quatsch mit Felizia, er schneidet die unmöglichsten Grimassen, er erfindet sogar neue Fratzen, und dazu macht er die seltsamsten Geräusche. Er wirft Felizia in die Luft und fängt sie wieder auf. Er lässt sich mit ihr auf die Matratze fallen, er dreht sich mit ihr ganz schnell im Kreis. Und die ganze Zeit über kichern und kreischen sie und geben nur Unsinn von sich. Irgendwann ist er erschöpft vom vielen Herumtoben. Sie gehen in die Küche und frühstücken, Felizia ihre Flasche und Hans ein Omelett mit Speck und Schinken, so etwas hat er sich schon lange nicht mehr zubereitet, Seit einer Ewigkeit, wird er denken und über sich selbst grinsen, »du mit deiner Ewigkeit«, sagt er dann und grinst Felizia an und ruft laut: »Ich mit meiner Ewigkeit!« Und Felizia, die auf dem Tisch liegt, kichert ihn an. Wie ein Äffchen sieht sie jetzt aus, denkt Hans und hat eine Idee. Er schiebt sein Gesicht ganz nah an sie heran, dass sie schon wieder kichern muss, und sagt: »Ich weiß, was wir heute machen, ich weiß es!«
Hans rasiert sich den Kopf und das Gesicht, er zieht zuerst sich und anschließend Felizia frische Kleider an, packt einen Beutel mit Dingen, die er benötigen wird. Er wickelt sich Felizia um den Bauch, zieht seinen alten, speckigen Mantel darüber, nimmt seinen Regenschirm, den Beutel und geht los. Zum Fahrstuhl. Niemand begegnet ihm. Auch der Hausflur ist leer. Auf der Straße sind kaum Menschen unterwegs. Hans kümmert sich nicht um die parkenden Autos. Deshalb sieht er nicht die zwei Männer, die dort, ein Stück weiter links, in einem unscheinbaren Auto sitzen und herüberschauen. Es sind die beiden Polizeibeamten, die Herr Lindners Sonderkommission abgestellt hat, um das Haus zu observieren. Aber der Regen ist ziemlich stark, und der Mann, der jetzt unter einem großen, schwarzen Schirm verborgen die Straße entlanggeht, Richtung U-Bahn, kommt ihnen höchstens ein bisschen dick vor, ansonsten aber unverdächtig. Sie beachten ihn nicht weiter.
Als Hans die U-Bahn-Station erreicht und mit der Rolltreppe in den Schacht hinunterfährt, entspannt er sich. Hier kennt ihn niemand, hier ist er ein ganz legaler Großvater mit seinem Enkelkind und einer gültigen Fahrkarte, die er vom letzten Mal übrig hat, weil
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